Meanwhile in Old Germany …

Meanwhile in Old Germany …

Historisches

Wasser tut’s freilich
höher jedoch steht die Luft,
am höchsten das Licht!
Arnold Rikli

Die aus heutiger Sicht naheliegend erscheinende Schlussfolgerung, die Entwicklung der elektrischen Sonne in Deutschland als eine Art Wurmfortsatz der Vorgänge aus den USA zu betrachten, ist grundsätzlich falsch. Die Selbstverzwergung Deutschlands in der Folge zweier erfolgloser Weltkriege war noch nicht in Sicht. Ebenso lag der Aufstieg von Amerika zur Weltmacht eben als Folge dieser Ereignisse in weiter Ferne. Wie aus den Betrachtungen zu den USA erkennbar, war dort die treibende Kraft die Verdüsterung der Städte infolge der Industrialisierung, die streitbare Gegenkräfte auf den Plan gerufen hatte, die sich Progressives nannten, also Fortschrittliche. Deutschland war in Sachen Industrielle Revolution ein Nachzügler. Aber die heftigste Reaktion darauf, der Kommunismus, ist Werk zweier deutscher Denker, die in Deutschland aufwuchsen und im Herzland der Industriellen Revolution starben. Der Kommunismus konnte in den USA hingegen nie eine große Anhängerschaft erringen.

Deutschlands Rolle im Langen 19. Jahrhundert war eher die einer Großmacht, nicht in militärischen Dingen, sondern in allen Fachrichtungen, die mit der Entwicklung von Licht und Optik zusammen hingen. Die großen Namen der technischen Optik von heute, z.B. Schott, sind mit der Geschichte des Lichts so eng verbunden wie der von Ernst Carl Abbe, der als „deutscher Physiker, Statistiker, Optiker, Industrieller und Sozialreformer“ bezeichnet wird. Dessen Firma Carl Zeiss, heute Carl Zeiss AG, beschäftigt im Jahre 2022 etwa 35.000 Menschen in mehr als zehn Ländern einschließlich China. Ein Joseph Fraunhofer, 1787 als elftes Kind eines Glasermeisters geboren, gab der Fraunhofer Gesellschaft den Namen, der heute die weltweit führende Organisation für anwendungsorientierte Forschung mit 30.000 Mitarbeitenden. Fraunhofer hatte nicht nur in seinem Fachgebiet, Physik und Optik, geglänzt, sondern auch ein Vorbild für die Verknüpfung von Technik, Forschung und Wissenschaft geschaffen.1Mehr zu Fraunhofer Gesellschaft hier. Sie ist eine der Großforschungseinrichtungen von Deutschland. Die Großforschung – Big Science – hat in diesem Land eine lange Tradition, die der Kaiser Wilhelm initiiert hatte. So trug die erste Gesellschaft auch seinen Namen – KWG oder Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Sie firmiert heute als Max-Planck-Gesellschaft und widmet sich der Grundlagenforschung. Die Großforschung bestimmt heute u.a. die Rolle der deutschen Universitäten, die anders als in den USA in der Forschung nicht führend sind.

Wie zu schon Beginn dieses Kapitels angeführt, stammen auch bahnbrechende Ereignisse der Physik wie das Plancksches Strahlungsgesetz oder die Relativitätstheorie von einem Albert Einstein aus Deutschland, besser gesagt, aus dem deutschsprachigen Raum.2Albert Einstein wurde als Staatsbürger von Württemberg geboren. Er studierte in Zürich und wurde Schweizer Staatsbürger. Zuvor war er zwischen 1896 und 1901 staatenlos. In 1914 zog er nach Berlin und wurde erneut als Bürger Preußens  deutscher Staatsbürger. In den Jahren 1911/1912 war er Bürger Österreichs. Als er in den USA starb, war er amerikanischer und schweizer Staatsbürger. Sie änderten nichts Geringeres als das mechanistische Weltbild eines Isaac Newton aus dem 17. Jahrhundert.

Zum Städtebaulichen

Dass die Geschichte der Städte von Deutschland einen anderen Verlauf hatte als die in der USA, dürfte allgemein bekannt sein. Welchen Unterschied dies z.B. im Städtebau praktisch ergibt, sieht man daran, dass deutsche „Hochhäuser“ eher einzeln stehende markante Turm-Bauten in einem Komplex bilden, so z.B. der Turm des ehemaligen Wernerwerks in Berlin, mit 71 m das höchste Gebäude zu Beginn des 20. Jahrhunderts, während andere Gebäude maximal 7 m (Gebäudeklasse 1) bei einer Fläche von unter 400 m2 bis 13 m bei Gebäudeklasse 4. Höhere Bauten gelten als Hochhäuser (Gebäude mit einer Höhe von mehr als 22 m) und gehören in die Klasse der Sonderbauten. Das erste Hochhaus in Berlin, das als Geschäfts- und Bürohaus erbaut wurde, das Europa Center, entstand erst im Jahre 1965. Ansonsten gilt die Traufhöhe von 22 m, die sich im Zuge der Stadterweiterung Berlins im 19. Jahrhundert nach dem Hobrecht-Plan3Der Hobrecht-Plan ist die übliche Bezeichnung für den nach seinem Hauptverfasser James Hobrecht genannten und 1862 in Kraft getretenen Bebauungsplan der Umgebungen Berlins. Dieser sollte als Fluchtlinienplan die Führung von Ring- und Ausfallstraßen und die Bebauung der Städte Berlin, Charlottenburg und fünf umgebender Gemeinden für die kommenden 50 Jahre regeln.

Der Hobrecht-Plan kam also sehr viel früher als die entsprechenden Gesetze und Verordnungen in New York. Mehr dazu hier und dort. ergab. Nur 0,35% aller Berliner Gebäude war im Herbst 2019 höher als 35 Meter und überragten damit die Traufhöhe nennenswert (um 50 Prozent und mehr). Der Hobrecht-Plan von 1862 diente als Gegenmaßnahme für die hygienischen Probleme von Berlin und damaligen Nachbarstädten wie Charlottenburg, die durch die Landflucht entstanden waren. Dieser sollte später von Dutzenden Städten kopiert oder irgendwie anders adaptiert werden, u.a. von Tokio und Moskau.

Das Besondere am Hobrecht-Plan war die Finanzierung der Bauten. Da der Staat kaum Mittel hatte, um Grundstücke aus Privatbesitz zu erwerben, suchte man Abhilfe durch Privatinvestoren. Handwerker, Fabrikanten und internationale Investmentgesellschaften taten sich zusammen und zogen zwischen den Straßen im rasenden Tempo Häuser hoch. Die meisten beachteten nur Hobrechts Minimalvorschriften beziehungsweise die von Polizei und Feuerwehr, und so setzte sich eine einheitliche Bauweise durch: Hinter das Vorderhaus kamen allmählich so viele Hinterhäuser, wie eben Platz war. Immerhin, in den Höfen dazwischen musste eine Feuerwehrspritze wenden können, größer mussten die Höfe aber nicht sein. Die Häuser durften nur so hoch sein, dass sie, falls sie einstürzten, nicht das Nachbarhaus auf der anderen Seite trafen. Übrigens, die Überlebenden der so entstandenen Hinterhöfe von Berlin muten sich im 21. Jahrhundert wie Oasen in der Großstadt an, ein Stück urbanes Glück.

Ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus den Jahren 2014 bis 2018 analysierte Hobrechts Erbe 160 Jahre später. Eine der Schlussfolgerungen war, dass Hobrecht etwas zu eng geplant hatte und die Entwicklung der Eisenbahn nicht gebührend berücksichtigt.4Siehe das Buch „Das Hobrechtsche Berlin - Wachstum, Wandel und Wert der Berliner Stadterweiterung“ von Gabi Dolff-Bonekämper, Angela Million, Elke Pahl-Weber (Hrsg.), DOM Publishers, Berlin 2018 und dessen Rezension in der Bauwelt hier Zudem soll Hobrechts Plan die Entstehung des Wilhelminischen Mietkasernengürtels begünstigt haben. Das ist ein Ring von Mietshäusern um den alten Stadtkern von Berlin. Dieser ist durch eine dichte Bebauung mit vier- bis fünfgeschossigen Wohnhäusern mit Seitenflügeln und Hinterhäusern gekennzeichnet. Die betroffenen Ortsteile von Berlin waren und sind heute noch weitgehend Arbeiterviertel wie Wedding, manche haben sich aber zu bevorzugten Lagen gemausert, so z.B. Prenzlauer Berg.

Entscheidend war die 1853 erlassene Baupolizeiordnung, die den Bauherren außer der Einhaltung der Straßenflucht und einer minimalen Größe der Innenhöfe von 5,34 m × 5,34 m, dem Wendekreis der damaligen Feuerspritzen, kaum Vorschriften auferlegte. So bebauten private Bauherren unter höchster Bodenausnutzung in den folgenden Jahrzehnten das Gebiet des Wilhelminischen Rings mit den typischen 5- bis 6-geschossigen Wohnhäusern, die, da sich die Bauherren nach der Breite der Straßenfront an den Erschließungskosten der Straßen beteiligen mussten, meist relativ schmale Vorderhäuser, aber mehrere Seitenflügel und Hinterhäuser besaßen. Die Hinterhäuser aber waren eng, schlecht belüftbar, boten meist nur Etagen- oder Hoftoiletten zur gemeinschaftlichen Benutzung und wurden meist von Arbeiterfamilien bewohnt.

Eine Berliner Spezialität waren die Schlafburschen, die im Jahr 1880 etwa 20% der Arbeiter ausmachten. Der einschlägige „Fachbegriff“ heißt Schlafgänger, weil darunter auch Schlafmädchen waren, alles Menschen, die gegen ein geringes Entgelt ein Bett nur für einige Stunden am Tag mieteten, während der der Wohnungsinhaber die Schlafstelle nicht benötigte. Mancherorts wurde das eigene Bett sogar an zwei verschiedene Schlafgänger vermietet. Kein Paradies für eingewanderte Söhne und Töchter von Bauern, die jetzt Industriearbeiter geworden waren. Oder auch nicht. Viel besser erging es ihnen nicht als ihre Leidensgenossen in der Antike, die Proletarier, im antiken Rom die gesellschaftliche Schicht der land- und besitzlosen lohnabhängigen, aber nicht versklavten Bürger im Stadtstaat. Ihr Lebensraum war damals Gegenstand von  Hygienediskussionen:

Diese sozialen Wohnungsschäden sind durch das Schlafgängerwesen stark vermehrt. […] 1895 wurden in Berlin 79435, in Dresden 19836 und in Leipzig 19101 Schlafstellenleute gezählt. In manchen Fällen war dasselbe Bett von zwei oder gar von drei Personen im Achtstundenwechsel innerhalb 24 Stunden benutzt, ohne somit einen Augenblick kalt werden zu können.“5Friedrich H. Lorentz: Die Hygiene der Neuzeit. In: Kurt Krause (Hrsg.): Die neue Volkshochschule. Bibliothek für moderne Geistesbildung. Band 4. Verlagsbuchhandlung E. G. Weimann, Leipzig 1925, S. 50. Bild Heinrich Zille @

So wundert es nicht, dass auch in Deutschland eine Art Sonnenkult entstand, der sich, anders in den USA, bis in die hohe Politik auswirkte. Während sich das britische Reich – „Reich, auf dem die Sonne nie untergeht“ – zunächst in ein Land verwandelt hatte, über dem die Sonne nie mehr richtig aufgehen wollte, fanden die Ansichten von „Sonnen-Doktoren“, also Anhängern der Naturheilkunde wie Arnold Rikli, bei den Nationalsozialisten soweit Eingang, dass ihr prägendes Symbol, die Swastika, also ein Sonnenrad, wurde. Dieses religiöse Symbol findet sich in unterschiedlichsten Kulturen von China bis zu den Kelten und stand für das Leben schlechthin.

Die Sonne, die Quelle allen Lebens bildet, enthält auch alles, was zu dessen Erhalt notwendig ist – etwa auf diese Formel kann man alle Gedanken bringen, die im Zuge des Lichtmangels in den Köpfen spukten. Der Lichtmangel selbst war aber kein Spuk sondern eine Realität, wie die empirische Meteorologie bestätigte. Die Meteorologen verzeichneten in den 1870er und 1880er Jahren eine deutliche Klimaverschlechterung, die mit der Verstädterung und Industrialisierung einhergegangen war.6Ulrich Linse, 1989, Lichthunger. In: Klaus Stanjek: Zwielicht – Die Ökologie der künstlichen Helligkeit, Raben Verlag, München Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt, die Rauchplage, betraf nicht etwa das Rauchen, sondern den Rauch, Ruß und Smog der Städte. Die Ärzteschaft musste um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert besonderes Augenmerk auf die Gesundheit der Arbeiterschaft widmen, da diese sich nicht wie die reichen Bürger in Villenviertel flüchten konnten, sondern die neben den Schwaden der Industrieschlote auch noch den Rauch dieser Villen ertragen mussten, wie im Beispiel der Orte namens West End oder Westend bereits beschrieben.

Ein gewisser A. Reich legte 1917 in seinem „Leitfaden für die Rauch- und Rußfragen“ eine Klassifikation der Schäden durch den Rauch vor: „1. Verschlechterung des Klimas; 2. Schäden an Bauwerken; 3. Schäden an den Pflanzen; 4. Schädigung der menschlichen Gesundheit“. Irgendwie kommt mir die Sache bekannt vor. Auch die Worte, die die Leser aufrütteln sollten: „Hast du jemals, lieber Leser, von einer Anhöhe oder einem höheren Berge aus, das Häusermeer einer Industriestadt überblickt, welches in neblig trüber Atmosphäre, in Rauch, Ruß und Kohlendunst vor dir lag? …“ Die Familie Krupp hat diese Zeilen bestimmt nicht gelesen, aber täglich von ihrer Villa Hügel aus genau das Bild beobachtet. Ich habe in den 1960ern in die umgekehrte Richtung geblickt, und ich sah die Kruppsche Villa oben im Dunst verschwinden. In den 1970ern konnte man in Städten wie Ankara, Türkei, die Temperatur an dem morgendlichen Aufstieg der Dunstglocke abschätzen, die die Heizungen verursachten. Einmal in meinem Hotel in Tokio konnte ich dasselbe im Schneckentempo live erleben. Vom vierten Stock aus gesehen, verschwand der schöne japanische Garten ab 9 Uhr morgens langsam. Und zwei Stunden später kroch der Dunst leise durch die Türritzen. Im 21. Jahrhundert sollte ich solche Szenen in Peking oder Jakarta erleben, in Städten, die die Sonne nur noch als fahle Scheibe am Himmel besucht.

In Deutschland versuchte man der Lage durch die Ausweisung unterschiedlicher Nutzungsbereiche innerhalb der Gemeinden Herr zu werden. Im heutigen Sprech der Gesetze, hier Baugesetzbuch, heißt das Instrument Flächennutzungsplan. In diesem Regelwerk ist für das ganze Gemeindegebiet die sich aus der beabsichtigten städtebaulichen Entwicklung ergebende Art der Bodennutzung nach den voraussehbaren Bedürfnissen der Gemeinde in den Grundzügen darzustellen. So werden zum Beispiel Flächen von Wohngebieten, Gewerbegebieten und Ackerflächen dargestellt. Auf Amerikanisch hießen die entsprechenden Gesetze Zonierungsgesetze. Sie wurden seinerzeit nach deutschem Vorbild erarbeitet. Wenn heute niemand vor seinem Haus einen LKW parken sieht oder in seinem Wohnviertel plötzlich eine lärmende Werkstatt entdeckt, verdankt er dies dem Baurecht. Wie oben in Bezug auf den Hobrecht-Plan dargestellt, können sich aus ungenügenden Vorschriften unerwünschte Folgen ergeben („Wilhelminischer Mietkasernengürtel“). Zu strenge Vorschriften können allerdings einer Stadt jegliche Chancen einer  Entwicklung verbauen.

In Deutschland sollte der Sonnenkult, das Streben nach Licht und Sonne, findige Leute auf den Plan rufen, die auch ohne Vorschriften Lösungen fanden. Als Beispiele sollen hier zwei Menschen unterschiedlichen Schlags angeführt werden, ein Dr. Schreber, der die Kleingartenidee zu einer Prävention der Gesundheit umändern wollte und so eine neue Linie schuf, und ein Industrieller, Siemens, dessen Vorstellung von einer Standortplanung ca. 80 Jahre nach ihrer Realisierung Weltkulturerbe wurde. Auch andere Werke der Berliner Moderne wurden gleichzeitig in das UNESCO Weltkulturerbe aufgenommen, die für mehr Licht, Luft und Sonne bauten.

Dr. Schreber und seine Licht- und Luftkur

Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft gebar neben einer reichen Bevölkerungsschicht – „Fabrikanten“ –  eine große Schicht von Armen, die im Gegensatz zu ihren bäuerlichen Verwandten keine Hilfe der Familie oder Sippe fanden. Nach einer Initiative von einer Schar wohlmeinender Landesherren, Fabrikbesitzern, Stadtverwaltungen und Wohlfahrtsorganisationen wurden sog. Armengärten ab Anfang des 19. Jahrhunderts angelegt. Als eine der ersten Armengärtenanlagen im heutigen Deutschland gelten die parzellierten Gärten, die auf Anregung des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel um 1797/98 im damals noch dänischen Kappeln an der Schlei angelegt wurden (sog. Carlsgärten).7Der Kleingarten bildet eine der wichtigsten sozialen Einrichtungen im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Auch heute noch weist Deutschland die größte Zahl von Mitgliedern von Kleingartenvereinen der europäischen Länder auf, gefolgt von Polen und Slowakei. Während die Slowakei im 19. Jahrhundert eindeutig zu dem betreffenden Raum gehört hat (Österreich-Ungarn), ist die Rolle von Polen etwas unterschiedlicher zu sehen. Zum einen gehörten Teile heutigen Polens einst dem deutschen Sprachraum, und zum anderen lebten polnische Arbeiter und Auswanderer in Teilen von Deutschland wie Berlin oder Ruhrgebiet, wo die Kleingärten entstanden sind.

Das Hauptziel der Armengärten war, Hunger und Armut entgegen zu treten. Das Arbeiten an Tageslicht und an der frischen Luft bildete einen sehr wirksamen Nebeneffekt. Daneben erfüllen Kleingärten eine Reihe wichtiger sozialer Funktionen. Nicht zu unterschätzen ist die ökologische Funktion für die Städte und Städter. Der Leipziger Arzt Moritz Schreber entwickelte Mitte des 19. Jahrhunderts ein Konzept für Kleingärten, eigentlich ein Schulkonzept. Im Jahre 1865 feierte man die Einweihung des ersten „Schreberplatzes“ am Johannapark in Leipzig, einer Spielwiese, auf der Kinder von Fabrikarbeitern unter der Betreuung eines Pädagogen spielen und turnen konnten. Später legte ein Lehrer dort Gärten für Kinder an. Zunächst als weitere Beschäftigungsmöglichkeit für die Kinder gedacht, entwickelten sich die Gärten rasch zu Refugien der Eltern bzw. der ganzen Familie. Aus den „Kinderbeeten“ am Rand des Schreberplatzes wurden „Familienbeete“, die man später parzellierte und umzäunte. Ab jetzt nannte man sie „Schrebergärten“.8Zur Geschichte der Schrebergärten hier und dort. Das Bestreben Schrebers bestand in einer Gesundheitsvorsorge durch Licht, Luft, Sonne und Bewegung. In Mauerzeiten hießen Feriencamps für Berliner Kinder auch so.

Für Berlin, das zu dem größten zusammenhängenden Industriestandort in ganz Europa zusammen gewachsen war, bedeutete die Kleingärtnerei immens viel. Noch heute weist die Statistik doppelt so viele Kleingärten auf wie das nächstgrößere Ballungsgebiet mit solchen Einrichtungen, Hamburg. Die größte Dichte an Schrebergärten herrscht an dem Geburtsort dieser Idee in Leipzig. Nicht selten werden die Kleingartenanlagen als die grüne Lunge der Städte bezeichnet, selbst wenn diese über große Wald- und Wasserflächen besitzen wie Berlin. Auch wenn sie nicht das gesamte Stadtbild beherrschen, nehmen sie einen wichtigen Platz in der Stadtplanung ein.

Rezept von Dr. Siemens

Ein weiteres Beispiel für eine städtebauliche Reaktion auf die Probleme der Industrialisierung bildet die Siedlung Siemensstadt in Berlin. Das Unternehmen, das dem Ort den Namen gab, wurde in 1847 in Berlin am damaligen Anhalter Bahnhof gegründet in der Nähe des alten Stadtkerns. Ihre Produktionsstätten waren Ende des 19. Jahrhunderts im gesamten Berliner Raum verstreut. Ihr Vertriebszentrum befand sich bis 1973 auf der gleichen Parzelle, auf der die erste Werkstatt in Betrieb gegangen war. Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte die Firma Pläne, einen Standort zu bauen, der nicht nur die Produktionsstätten und Verwaltungen zusammenfasste. Am Ende fand die so entstandene Großsiedlung Eingang ins UNESCO Weltkulturerbe. Und ihre Architekten - Walter Gropius, Otto Bartning, Hugo Häring, Fred Forbát und Paul Rudolf Henning - hätten es allesamt in die Walhalla deutschen Städtebaus geschafft, wenn sie denn erbaut worden wäre. Das städtebauliche Konzept erarbeitete Hans Scharoun, der Jahrzehnte später die Berliner Philharmonie bauen sollte und damit den Konzertsaal neu interpretiert – ewig kopiert, nie erreicht.

Die Idee der Siedlung war sehr modern, Arbeiten und Leben in der gleichen Umgebung. Heute nennt sich das Co-Working oder gar Co-Living, ein Traum von New Work. Nur nach dem Sterben musste man etwas weiter weg. Ansonsten sollte kein Arbeiter von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstätte oder zu dem Sportplatz mehr als 500 m laufen. Die Vorstellung von Siemens war das Gegenteil von dem, was heute einen Großteil deutscher Arbeitnehmer zu Pendlern macht, die Tag für Tag bis zu 50 km oder gar mehr zur Arbeit und zurück fahren. Nur ein Viertel von ihnen hatte im Jahre 2022 einen Arbeitsweg von weniger als 5 km! Sie erreichen ihren Arbeitsplatz zu ca. 70 % mit dem Auto. All dies blieb den Siemens-Mitarbeitern in Berlin bis heute erspart. Wie alle Siedlungen der „Berliner Moderne“ wurden Häuser ohne Hinterhof und Seitenflügel, dafür mit Licht, Luft und Sonne gebaut.

Noch mehr: Viele Wohnungen besitzen kleine Gärten, die sich zu einem großen Innengelände öffnen, in dem die Nachbarschaft ganz unter sich bleibt. Kinder können auch im Zeitalter des Autos ungefährdet draußen spielen. Wie das Konzept in ideal ausgeführter Form ansieht, zeigt ein Bild der Hufeisensiedlung von Bruno Taut, die etwa gleichzeitig mit Siemensstadt entstanden ist. Das Bild zeigt deutlich, dass Licht, Luft und Sonne keine Schlagwörter sind.

Insgesamt sechs Siedlungen der Berliner Moderne aus den Jahren 1913 bis 1934 sind von der UNESCO in die Liste des Welterbes aufgenommen worden. Vier der sechs Entwürfe stammen von Bruno Taut. Auf der UNESCO-Website wird die Wahl kurz so kommentiert: „Die sechs Siedlungen der Berliner Moderne sind Ausdruck der politischen, sozialen, kulturellen und technischen Fortschrittlichkeit im Berlin der Weimarer Republik.“9UNESCO-Welterbe Siedlungen der Berliner Moderne - Modernität und soziales Denken im Berlin der Weimarer Republik Deutsche UNESCO-Kommission @ abgerufen 23.03.2022

Nichts geht ohne Vorschriften …

Wie im Falle der Entwicklung von Berlin im Zuge des Hobrecht-Plans angeführt und mit den Auswirkungen der Baupolizeiordnung von 1853 erläutert, glich die Situation in Berlin im Prinzip der in New York oder Chicago – städtischer Raum wurde verdichtet bebaut, um den verfügbaren Boden so intensiv wie möglich auszunutzen. Der wesentliche Unterschied bestand in dem Maß, in dem man diesen Boden verlassen durfte. Der Weg in die Wolken war in den USA nur durch die Nicht-Verfügbarkeit geeigneter Materialien (Baustahl, Stahlbeton, Glas) und der Erschließung durch Aufzüge versperrt gewesen. Als es dem Unternehmer Otis in 1852 gelang, die Absturzsicherheit seines Aufzugs zu demonstrieren, war ein wesentliches Hindernis beseitigt. Während in Berlin des 21. Jahrhunderts Gebäude mit einer Höhe von mehr als 22 m als Hochhäuser gelten, erlebte Chicago bereits in 1885 den ersten „Wolkenkratzer“, das Home Insurance Building, mit einer Höhe von 42 m. Die Bezeichnung Wolkenkratzer ist eine verniedlichende Form des ursprünglichen Begriffs „skyscraper“, also Himmelskratzer, ein Wort aus der Seemannssprache, das den höchsten Mast eines Segelschiffes bezeichnet. Aus der Sicht der Mannschaft kratzt dieser tatsächlich am höchsten sichtbaren Objekt, dem Himmel.

Nach 1885 ging es Schlag auf Schlag himmelwärts. Zehn Jahre später stand schon das Reliance Building, der erste Wolkenkratzer mit einer vorwiegend aus Glas gebauten Fassade, die 61 m hoch ragte. Entscheidend für den Erfolg sollte das Patent für die Stahlskelettbauweise vom Jahre 1888 werden, der dem Architekten Leroy S. Buffington erteilt wurde. Schon im Jahre 1908 lag in New York die Latte über 150 m. Das Singer Building hatte 187 m erreicht. Es blieb nicht sehr lange ein „skyscraper“, denn schon im Jahr danach wurden 200 m überschritten. Runde 20 Jahre danach, in 1931, erreichte das Empire State Building die 400 m-Marke.10Das Empire State Building war ohne Aufsätze 381 m hoch. Später wurde eine Antenne aufgesetzt und die Gebäudehöhe auf 449 m bestimmt.

Den deutschen Bauherren wurde der Wettlauf gen Himmel versperrt durch diverse rechtliche Schritte, die häufig eine Reaktion auf das Begehren der Bevölkerung nach Licht, Luft und Sonne bildeten. Das Land Preußen machte bereits 1904 den Anfang mit einem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Wohnverhältnisse, die auf eine bessere Durchlichtung und Durchlüftung von Wohnraum zielte.

»Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen usw., verordnen, mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtags der Monarchie, was folgt.«, so fing manches Gesetz von Preußen an, und was folgte, ist auch heute durchaus zeitgemäß, was den Wohnraum anbelangt. Dass das Preußische Wohnungsgesetz vom März 1918 viele Jahrzehnte später in dem dritten Nachfolgestaat des Deutschen Reichs noch anwendbar war, wurde gerichtlich festgestellt und von Experten sogar dem damaligen Bundesminister als ein „ein ganz progressives, hantierbares Gesetz“ empfohlen, das er nur erneut unterschreiben könnte.11In 1973 hatte das Frankfurter Verwaltungsgericht einen Miethai verurteilt, der die Rechtmäßigkeit des Urteils anzweifelte. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel bestätigte die Verurteilung und zog das Gesetz von Preußen heran. @ abgerufen 22.03.2022 Die damaligen Gesetze oder Verordnungen lesen sich wie heutiges Baurecht an. Beispielsweise hieß es: „Jeder Wohn- und Schlafraum muß mindestens ein direkt ins Freie führendes Fenster haben. Die lichtgebende Fensterfläche muß mindestens 1/12 der Bodenfläche des Raumes betragen.…“ Etwa 90 Jahre später lautete die entsprechende Vorschrift „Aufenthaltsräume müssen ausreichend belüftet werden können; sie müssen unmittelbar ins Freie führende Fenster von solcher Zahl, Lage, Größe und Beschaffenheit haben, dass die Räume ausreichend mit Tageslicht beleuchtet werden können (notwendige Fenster). Das Rohbaumaß der Fensteröffnungen muss mindestens ein Zehntel der Grundfläche des Raumes betragen.“12Landesbauordnung für Baden-Württemberg (LBO) in der Fassung vom 5. März 2010, § 34 Aufenthaltsräume, Abschnitt (2) Der wesentliche Unterschied liegt in der Sammelbezeichnung der Räume. Ob und in welchem Maße die für die Belichtung maßgebliche transparente Fläche der Fenster anders ist, muss man berechnen (1/12 der Bodenfläche als lichtgebende Fensterfläche und ein Rohbaumaß von 1/10 davon unterschieden sich minimal voneinander).

Wenn man die heutigen Bauordnungen der Bundesländer vergleicht, wird man in dieser Hinsicht bestenfalls herausfinden, dass der zuständige Paragraph eine andere Nummer hat und die Bezeichnung der Flächen nur etwas anders lautet (Nettogrundfläche statt Bodenfläche, Rohbaumaß für Fenster statt lichtgebende Fensterfläche). Wer mit spitzer Feder nachrechnet, kann herausfinden, dass die Fenster mal kleiner oder mal etwas größer sein dürfen. Allzu bedeutsam fallen die Unterschiede zu den Gesetzen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts nicht aus. Heute wird man bei den neuen Bauweisen sogar eher zu große Fenster vorfinden. Dass die Vorschriften so lange überlebt haben, zeigt wie gut sie waren. Und noch sind!

Es ist allerdings nicht immer selbstverständlich, dass Regelungen, die vor einem Jahrhundert getroffen wurden, ein Jahrhundert später noch sinnvoll und daher  gültig sind. Denn der Aufstieg der elektrischen Sonne infolge der Entwicklungen der 1920er bis 1940er Jahre führte dazu, dass sogar das Selbstverständlichste, die Notwendigkeit von Fenstern, in Frage gestellt wurde. Und das nicht etwa von Fachfremden, sondern von wissenschaftlich denkenden Architekten.13C.T. Larson, 1965 The Effect of Windowless Classrooms on Elementary School Children. Diese Studie stellt die berechtigung von Fenstern überhaupt in Frage und verlangt fensterlose Schulen, weil man sie besser belüften und beleuchten könne, besser für gute akustische Bedingungen schaffen würde. Auch die Unterhaltungskosten wären geringer. Es blieb auch nicht bei theoretischen Überlegungen. Fensterlose Arbeitsräume und Schulen wurden nicht nur diskutiert, sondern auch gebaut. Es gibt in den USA sogar ein Hochhaus komplett ohne Fenster. Die Errungenschaften des 19. und der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts drohten infolge des Erfolgs einer Lampe in der Epoche Licht 3.0 vollständig verloren zu gehen. Für die Mehrzahl der Arbeitnehmer der USA ist es auch der Fall. In vielen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien ähneln die Verhältnisse denen in den USA.

In Deutschland schob eine kleine, aber sehr bedeutsame Vorschrift dem einen Riegel vor. Sie ist sehr kurz, hört sich fremd an und findet sich an unerwarteter Stelle. Die Vorschrift findet sich in der Arbeitsstättenverordnung vom Jahre 1975: „§ 7 Beleuchtung – (1) Arbeits-, Pausen-, Bereitschafts-, Liege- und Sanitätsräume müssen eine Sichtverbindung nach außen haben …“. Diese Vorschrift bedeutet eine Antwort auf eine beschlossen scheinende Entwicklung: fensterlose Räume für alle. So sollte paradoxerweise eine im Vergleich zu ihren Vorgängern beispiellos effiziente Lampentechnik, die aus viel weniger Energie viel mehr Licht erzeugte, einer neuen Lichtarmut den Weg bereiten. Diese wurde erst im Jahre 2021 von führenden Wissenschaftlern als eine Gefahr für die Gesundheit erkannt, die Gegenmaßnahmen fordern. Wörtlich heißt darin: „Der Lichteinfall ins Auge übt wichtige Einflüsse auf die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden aus, indem er die Tagesrhythmen [der Hormone] und den Schlaf, ebenso wie kognitive und neuroendokrine Funktionen verändert. Vorhandene Beleuchtungen genügen diesbezüglichen Anforderungen nicht.“ Die empfohlene Gegenmaßnahme ist eine Erhöhung der Beleuchtung, bevorzugt durch Fenster.

Zum besseren Verständnis: Als neuroendokrines System fasst man alle Zellen, Organe oder Organbestandteile zusammen, die an der Prozessierung und Sekretion von Neurohormonen beteiligt sind. Man kann das System buchstäblich als existenziell bedeutsam bezeichnen. Zu den kognitiven Funktionen gehören beispielsweise Denken, Wahrnehmung, Erkennen, Vorstellen, Gedächtnis, Handlungsplanung und Kommunikation. Die verkürzt angeführte Anforderung der Wissenschaft bedeutet schlicht, dass heute übliche Beleuchtungen lebenswichtige Funktionen des Menschen beeinträchtigen und gefährden. Die elektrische Sonne des 21. Jahrhunderts erfüllt das Versprechen von Luckiesh aus dem Beginn des 20. nicht.

Ob und wann diese Anforderung mit einer Vorschrift beantwortet wird, steht in den Sternen. Bemerkenswert ist indes, dass in einer Welt, in der eine weltweite Lichtverschmutzung beklagt wird, und Menschen sich durch die Beleuchtung bei der Arbeit gestört fühlen, ein Aufruf von Wissenschaftlern erfolgt, mehr Licht zum Menschen zu bringen. Und dies betrifft nicht die Arbeit allein, sondern auch den Bereich des Privatlebens. Lichtmangel 100 Jahre nach dem unaufhaltsamen Aufstieg der elektrischen Sonne – ein Paradoxon, das nach einer Erklärung schreit.