Legendenbildung und Märchenerzählung – Ungewöhnliche Aktivitäten für Ingenieure
Außergewöhnliche Folgen des Hawthorne Projekts
Die Folgen des Hawthorne Projekts für die Wissenschaft allgemein interessieren im Rahmen dieser Arbeit nur insofern, als sie die Entwicklung der Lichtwelt berühren. Die erfolgsgewöhnten Lichtmacher, die buchstäblich Licht ins Dunkel der Fabriken und Mietkasernen brachten, mussten eine empfindliche Niederlage einstecken, die sie, wie bereits erklärt, nicht Verstehen konnten. Man stelle sich vor, über 40 Jahre nach der Erfindung der Glühlampe stellt sich heraus, man kann Arbeitsplätze beleuchten, wie man will, maßgeblich für die Arbeitsleistung sind andere Faktoren.
Zumindest ein großer Industriestaat wollte zudem nicht glauben, dass man mit besserem Licht die Arbeit nicht beeinflussen kann, und legte ein staatliches Programm auf, um bessere Produkte und effizientere Arbeiten zu erzielen. Die Pleite von Hawthorne wurde in Deutschland erst gar nicht diskutiert. Human Relations passte ganz und gar nicht in die Zeit. Das war gegen Ende des Hawthorne Projekts nicht nur im totalitär geführten Deutschland so. Die Weltwirtschaft ächzte unter einer globalen Wirtschaftskrise. Diese hinterließ überall bis heute spürbare Spuren.
Was nun in der Lichttechnik passierte, beschrieb ein Kenner der Materie, Peter Boyce, in launiger Manier vorgetragen vor dem größten Publikum an Lichttechnikern, dem Kongress der IES, der US-amerikanischen Lichttechnischen Gesellschaft. Kaum ein anderer Referent hätte einen solchen Vortrag heil überstanden. Denn der Titel seines Beitrags lautete „Von einer Bestimmung von Beleuchtungsstärken nach Sehleistung – und andere Märchen“.1Boyce, P. R.: Illuminance Selection Based on Visual Performance – and Other Fairy Tales, Lighting Research Center, Troy, New York, 1993 Man muss schon ein ordentliches Standing haben, wenn man den Mitgliedern der größten Lichttechnischen Gesellschaft der Welt, noch dazu fast der ältesten, vorzutragen, dass sie Märchen erfinden, um die Realität nicht zu sehen. Boyce kannte die Materie wie kaum ein zweiter, denn er war u.a. Chefredakteur der wichtigsten wissenschaftlichen Publikation der Lichttechnik, Lighting Research and Technology, und Autor von Human Factors in Lighting, einem Standardwerk seit seinem Erscheinen seiner ersten Auflage in 1981.
Ich werde zunächst die Einleitung dieses Papiers und seine Quintessenz kommentieren. Danach folgt eine Betrachtung einer Legendenbildung, die so wissenschaftlich ausschaut, dass selbst Professoren vom Fach sie für wahr halten. Allerdings liegt die Geschichte dieser Lichtlegende im Dunkeln. Danach möchte ich anhand der „Methoden“ der Festlegung von Beleuchtungstärkewerten in Normen aufzeigen, warum man in unseren Tagen arge Probleme damit hat, neue Erkenntnisse über die Wirkungen von Licht auf den Menschen in die Praxis umzusetzen.
Beleuchtungsstärke – Was Sie immer wissen wollten und sich nicht trauten zu fragen
Boyce‘ Papier handelt von der Beleuchtungsstärke, die nicht einer Diskussion bedarf, so lange man sie das sein lässt, was sie eigentlich ist, eine physikalische Größe, messbar im lichttechnischen Labor. Wenn man sie messen will, muss man nur ein kleines Gerät zücken und ins Licht halten. Dann sieht man auf der Anzeige eine Zahl. Die Dimension dieser Zahl ist Lux (lx).
Die Messung der Größe im Labor werden selbst Laien verstehen. Denn sie entspricht dem, was wir im Physikunterricht in der Schule alle irgendwann mal gesehen haben. Und die sieht aus, wie das Bild zeigt. Eine Lichtquelle (links) schickt ihre Strahlen in alle möglichen Richtungen, die von ihrer Form abhängen. Interessieren tut, was davon an dem Punkt ankommt, wo wir etwas sehen wollen. Im Labor hängt dort der Photometer, im echten Leben das Buch, das wir lesen wollen.
Die Beleuchtungsstärke gibt also die Menge des Lichts an, das auf dem Sehobjekt ankommt. Und das bestimmt, wie gut wir dieses sehen. Im richtigen Leben sieht die Sache leider nicht mehr so einfach aus. Die Lichtquelle hängt oben. Nicht etwa weil sie immer dorthin gehört, sondern aus praktischen Gründen. In einer Wohnung könnte sie überall sein, an der Wand, auf dem Couchtisch, neuerdings sogar in Fliesen auf dem Fußboden eingelassen. In der Arbeitswelt wird sie fast immer oben hängen, außer bei amerikanischen Cubicles. Zudem wird sie nicht allein auftreten. Denn sie würde zwar manche Stellen beleuchten, an anderen aber eher Schatten werfen.
Ergo muss man in der Praxis mit mehr als einer Lichtquelle rechnen. Deren Beleuchtungsstärken werden nun addiert, wie sie an einer Stelle ankommen, wo man etwas lesen möchte. Das Licht der Quelle direkt über dem Sehobjekt wird den größten Beitrag liefern, wie man auch in der Schule gelernt hat. Diesmal in dem Biologie- oder Geographieunterricht. Länder, über denen die Sonne höher steht, sind fast immer wärmer als solche, auf die das Sonnenlicht schräg einfällt. Die Photometer berechnen diesen Effekt automatisch, so dass sich keiner mehr überlegt, was die denn tun. Sie rechnen das Licht nach einer cos-Funktion aus.
Fällt das Licht senkrecht auf die Stelle, an der man misst, wird es mit dem Faktor 1 multipliziert, waagrecht einfallende Strahlen wirken sich nicht aus. Ergo Faktor 0. Je steiler der Lichteinfall, desto größer die Wirkung. Wer es nicht glauben will, kann sich auf der Stelle überzeugen.
Wenn an einer Stelle ein Photometer einen bestimmten Wert anzeigt, ist es gleichgültig, aus welcher Richtung das Licht einfällt. Leider nicht so, wenn man geformte Objekte sehen will oder muss. Dann ist es nicht gleichgültig, wie das Licht einfällt. Bei dem obigen Bild wird der Kopf links von vorn beleuchtet, der in der Mitte von oben, und der letzte nur noch von hinten. Professionelle Beleuchter müssen oder können den für ihren Zweck geeigneten Lichteinfall mit Hilfe von mehreren Lichtquellen realisieren, die sie zweckmäßig platzieren. Der Lichtplaner eines Arbeitsraums kann hingegen nicht einmal wissen, ob das Gesicht, das er beleuchten soll, nach rechts oder nach links guckt. Zudem stehen ihm nicht Batterien von Scheinwerfern zur Verfügung, sondern etwa zwei Leuchten pro Arbeitsplatz. Meistens kann er deren Lage nur begrenzt bestimmen.
Übrigens kann sich der Lichtplaner nicht darauf verlassen, dass das Licht, das auf eine Stelle auftrifft, dem Cosinus-Gesetz entsprechend funktioniert. Man kennt die Wirkung, wenn Licht auf Wasser trifft. Ab einem bestimmten Winkel kann das Licht nicht mehr ins Wasser eindringen, es wird „total“ reflektiert. Dasselbe passiert, wenn Licht auf Glas trifft. Das ansonsten transparente Glas wird unter dem Winkel der Totalreflexion einfach undurchsichtig. Die Bewertungsfunktion von Photometern rechnet daher schräg einfallendes Licht zur Beleuchtungsstärke hinzu, während es in der Realität das Sehen sogar stört. Es führt zu Glanz. Dieser ist an Arbeitsplätzen meist unerwünscht.
Zudem wird bei den drei eingezeichneten Strahlen die Cosinus-Funktion garantiert nicht die erste Rolle spielen, sondern die Form des beleuchteten Objekts. Was unser Photometer anzeigt, gilt nur für ebene Objekte. Und dies auch nur unter der Voraussetzung, dass die Objekte absolut matt sind.
Im richtigen Leben sind die Objekte aber nicht matt, sie glänzen mehr oder weniger (s. unten). Und ob etwas, was man sehen möchte, matt ist, hängt nicht von dessen Oberfläche allein ab, sondern auch vom Lichteinfall. Deswegen bedeutet das Zusammenrechnen des Lichts aus verschiedenen Quellen i.d.R. eine mehr oder weniger starke Verfälschung der physikalischen Realität. Man könnte auch das böse Wort Milchmädchenrechnung anführen. Wozu dient denn die Berechnung überhaupt?
Die Berechnung der Beleuchtungsstärken in der Praxis dient eigentlich zum Nachweis, dass an einem Betrachtungspunkt eine hinreichende Menge Licht ankommt. Ob die so ermittelte Quantität wirklich etwas bedeutet, hängt eher von den Umständen ab. Viel problematischer ist indes das Zusammenrechnen der Werte aus einem Raum. Beim Konzept der Allgemeinbeleuchtung wird geprüft, ob an jedem Arbeitsplatz eines solchen Gebildes die vorgeschriebene Beleuchtungsstärke herrscht. Eine Vorgabe zur Gleichmäßigkeit soll sicherstellen, dass auch an dem an geringsten beleuchteten Arbeitsplatz genügend Licht ankommt. Es versteht sich, dass sich dies nicht etwa auf die Richtung des Lichts beziehen kann. Dummerweise hat aber Licht immer eine Richtung.2Bild aus Sieverts, E. : Bürohaus- und Verwaltungsbau, Verlag W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 1980 Die ist aber nicht immer die gewünschte.
Wenn also in einer Studie mit der Beleuchtungsstärke hantiert wird, ist immer von gemittelten Lichtverteilungen die Rede. Und vom Licht, das seine wichtigste Eigenschaft verloren hat, die Richtung. Das wäre vielleicht noch erträglich, wenn die Mittelwertbildung sinnvoll erfolgen würde. Doch hiervon kann keine Rede sein. Denn Sinn machen tut eine mathematische Berechnung, wenn das Ergebnis etwas mit dem Zweck der Beleuchtung zu tun hätte. Wenn man sich aber näher anschaut, was von Praktikern oder von Lichtplanern verlangt wird, wird man leicht feststellen, dass die Berechnung nicht etwa Sinn macht für Menschen, die an einem Arbeitsplatz sitzen und arbeiten. Wozu das Ganze zweckmäßig sein kann, wird nach der Betrachtung der Vorgabe der derzeit gültigen ASR A3.4 klar. Eine ASR =Arbeitsstättenregel ist ein Regelwerk, das den Unternehmen im Namen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zeigt, wie der entsprechende Paragraph der Arbeitsstättenverordnung erfüllt werden kann.3Die ASR führt einen Weg der Erfüllung der jeweiligen Vorschrift an. Dazu gibt es standardmäßig einen Passus wie diesen: „Diese ASR A3.4 konkretisiert im Rahmen des Anwendungsbereichs die Anforderungen der Verordnung über Arbeitsstätten. Bei Einhaltung der Technischen Regeln kann der Arbeitgeber insoweit davon ausgehen, dass die entsprechenden Anforderungen der Verordnung erfüllt sind. Wählt der Arbeitgeber eine andere Lösung, muss er damit mindestens die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz für die Beschäftigten erreichen.“
Wann gilt z.B. die Anforderung für eine Beleuchtungsstärke erfüllt? Hier führe ich das Originalbild der ASR A3.4 „Beleuchtung“ mit den Messpunkten für den Haupt-Arbeitsplatz und die Besprechungsecke. Auf den ersten Blick scheint das Bild Sinn zu machen. Aber nur auf den ersten Blick. Denn von den eingezeichneten 30 Messpunkten liegen nicht weniger als 14 hinter dem Benutzer bzw. wo er nie hingucken kann. Noch fragwürdiger sieht die Sache aus, wenn man sich die Aufbereitung von diesem Bild in einer Information des Arbeitsschutzes anschaut. Dort sind auch die Bildschirme eingezeichnet.
Wo guckt der Mensch hin, der an diesem Tisch sitzt? Auf den Bildschirm. Warum misst man die Beleuchtung aber rechts und links davon? Eigentlich muss dort überhaupt keine Beleuchtung sein. Was ist die Bedeutung der Messpunkte hinter dem Bildschirm?(①) Welche Bedeutung haben die Messpunkte rechts und links vom Stuhl? (②) Sinn machen tun sie nicht. Erst recht muss man sich ernsthaft fragen, welchen Beitrag die Messpunkte hinter dem Stuhl zum Sehen leisten mögen (➂). Bei den Punkten an beiden Enden des Tisches (➃) weiß ich hingegen Bescheid. Die Experten der DGUV meinten bei einer Diskussion, dort könnte ein Aktendeckel stehen oder liegen, dessen Beschriftung man lesen müssen könnte. Deswegen liegt das rote Rechteck dort oben rechts. Übrigens, dieses Bild und ähnliche werden zur Schulung von Sicherheitsfachkräften von Betrieben benutzt. Diese schütteln häufig den Kopf, weil sei den Sinn der Übung nicht verstehen. Die gemäß diesem Bild ermittelte Beleuchtungsstärke hat mit der gleichnamigen Laborgröße nämlich nicht allzu viel zu tun, außer dass sie beide mit dem gleichen Gerät gemessen werden.
Bis hierhin habe ich nur eine Beleuchtungsstärke versucht zu erklären. Wer die neueste Beleuchtungsnorm für europäische Arbeitsplätze realisieren will, muss noch diverse andere verstehen und messen. Ich führe nur ihre Kürzel an und verzichte auf weitere Erklärungen: Ēm, Ēi, Ēz , Ēm,z, Ēm,wand, Ēm,decke Ēm,modified. Ein Wunder, wenn es einen Planer gibt, der sie nicht nur versteht, sondern vernünftig einplant.
All diese Größen sollen eine Bedeutung für den haben, der den Arbeitsplatz benutzt. Da sie mehr oder weniger genau physikalisch definiert sind, kann man sie messen. Dass aber ausgerechnet eine Größe, die niemand hat jemals messen können, über Jahrzehnte das vornehmliche Ziel der Beleuchtungsplanung gebildet hat, kann hingegen kaum jemand glauben. Doch es war so und lässt sich anhand der noch existierenden Ausgaben der Normen leicht nachweisen. Die Größe hieß Nennbeleuchtungsstärke und war „der zeitliche und örtliche Mittelwert“ der Beleuchtungsstärken.
Was man sich darunter vorstellen soll? Für einen Techniker eigentlich nicht schwer zu erklären. Seit spätestens Goethe weiß der Mensch, dass Lampen ein Problem haben. Sie müssen geputzt werden: „"Ich wüsste nicht, was sie besseres erfinden könnten, als wenn die Lichter ohne putzen brennten.“ soll Goethe geseufzt haben. (s. Licht 2.0 Licht aus Glühendem) Bei moderneren Lampen nennt man den Prozess Altern. Daher muss man, will man ein bestimmtes Lichtniveau erreichen, mehr Licht installieren, damit dieses Niveau irgendwann mal wirklich herrscht. Im Neuzustand erzeugt eine ordnungsgemäß geplante Lichtanlage immer eine höhere Beleuchtungsstärke als die Nennbeleuchtungsstärke.
Dumm nur, dass man als Benutzer nie weiß, wann und wo diese herrschen wird. Sie ist der über die Zeit gemessene Mittelwert eines auf fragwürdige Art ermittelten örtlichen Mittelwerts. Und wozu sollte der auf diese erhaltene Wert dienen? Im Vorgriff auf die Entstehungsgeschichte der Tabellen in den Normen, die auf bis zu 50 Seiten Tausende von Abgaben enthalten, führe ich ein Beispiel aus der „Praxis“ an:
- „Behandlungsbereich ➝ > 200 lx; Abferkelung, hinter der Sau zur Geburtskontrolle. Deckzentrum, hinter der Sau zur Erkennung der Vulvarötung etc.
- Kontrollbereich ➝ > 50 lx; Wartungsgänge zur Tierkontrolle“4DLG-Merkblatt 420 Beleuchtungstechnik für Schweineställe. @ abgerufen 22.10.2022
Wie man solche Werte abgeleitet haben will, steht in der Norm geschrieben:
„Die Werte gelten für übliche Sehbedingungen und berücksichtigen die folgenden Faktoren:
- psychophysiologische Aspekte wie Sehkomfort und Wohlbefinden;
- Anforderungen an Sehaufgaben;
- visuelle Ergonomie;
- praktische Erfahrung;
- Beitrag zur Betriebssicherheit;
- Wirtschaftlichkeit.”5DIN EN 12464-1:2021 Abschnitt 4.3.3 Beleuchtungsstärken im Bereich der Sehaufgabe oder Tätigkeit
Das hört sich zunächst sehr seriös an. Wenn man sich aber die einzelnen Faktoren anschaut, wird sich jeder Mensch als gebildeter Laie fragen, wie man denn Sehkomfort, einen undefinierten Begriff, mit Wohlbefinden, einem wichtigen, für Außenstehende aber recht nebulösen Gemütszustand, zusammen betrachtet und unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit zu einem Wert umwandelt. Wie oben dargestellt, ist nicht einmal die Zielgröße objektiv fassbar.
Diese Aktion wird dann für die gesamte Wirtschaft mit allen Facetten berücksichtigt und in Tabellen mit 11 Spalten gegossen. Und zwar in 61 Tabellen, die 42 Seiten füllen. Die in diesem Abschnitt besprochenen Beleuchtungsstärken bilden dabei nur eine der 11 Spalten.
An dieser Stelle sei an den Titel des Papiers von Boyce erinnert: „Von einer Bestimmung von Beleuchtungsstärken nach Sehleistung – und andere Märchen“. Es handelt nämlich von der Entstehung der hier angeführten Regelwerke, die die Beleuchtung unserer Arbeitswelt festlegen.
Es war einmal … - Drei Ingenieure und das Märchen von der Sehleistung
Es waren einmal drei Lichtingenieure. Sie lebten in einem kleinen Haus an der Wall Street. Sie waren arm, aber ehrlich. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt durch klare Empfehlungen zur guten Beleuchtung. Sie konnten aber nicht ruhig schlafen. Ihre Nächte waren voller Albträume, weil sie wussten, dass das meiste, was sie empfehlen, auf ihren Erfahrungen und Entscheidungen basierte. Alles war eine Frage der Vereinbarung und Konsens. In den dunkelsten Stunden der Nächte fürchteten sie, dass der Wolf Justiz sich vor ihre Tür stellen und – schnaufend und zischend – ihr Haus niederreißen würde. Aber bei jedem Sonnenaufgang kam erneut eine neue Hoffnung auf. Es gab eine Lösung! Sie mussten nur die magische Formel finden; eine Formel, die die Beziehung zwischen den Beleuchtungsbedingungen und der menschlichen Leistung bei jeglichen Aufgaben penibel beschreibt. Mit einer solchen Formel konnten die drei Lichtingenieure objektiv handeln und dem Konsens abschwören. Sie würden einfach behaupten, es gäbe eine Beziehung zwischen den Beleuchtungsbedingungen und Arbeitsleistung und die Nutzer vor die Wahl stellen, welches Niveau an Arbeitsleistung sie sich wünschten. Alternativ könnten sie auf der Basis ihrer Formel Empfehlungen verfassen und dabei angeben, welche Randbedingungen sie berücksichtigt hatten. Auf jeden Fall hätten ihre Empfehlungen eine begründete Basis, um den bösen Wolf Justiz abzuwehren. Jahr für Jahr überstanden sie mit ihrer Suche nach der magischen Formel. Nach vielen Jahren und vielen falschen Morgenröten die magische Formel war gefunden und sie lebten glücklich weiter. Wenn sie noch nicht gestorben sind …
Das ist die – fast wörtliche – Übersetzung der Ouvertüre des Märchens von Peter Boyce. Er führt aber gleich weiter aus, dass es sich eben um ein Märchen handelt, in dem das Problem real existiert, aber nicht die Lösung. Er führt aus, warum die magische Formel über die Beziehung von Beleuchtungsbedingungen und Arbeitsleistung nicht in einer generalisierbaren Form existieren kann. Weiter diskutiert er den Unterschied zwischen „visuellen“ Wünschen und Bedürfnissen.
Als Ergebnis stellt Boyce fest, dass der Konsens die unvermeidbare Konsequenz aller Empfehlungen zur Beleuchtung bleiben wird. Die Frage ist, warum jemand ein solches Papier schreiben musste. Denn niemand kann Aberhunderte von Arbeitsplatztypen untersuchen, alle Bedürfnisse der dort arbeitenden Menschen und Anforderungen ihrer Tätigkeit erfassen, um spezifische Empfehlungen zur Beleuchtung zu entwickeln.
Was Boyce zudem nicht sagt, ist dass die Beleuchtung nur eine der physikalischen Bedingungen darstellt, die für die Gestaltung einer Arbeitsumgebung relevant sind. Andere wie Klimatisierung und Akustik sind nicht minder wichtig. Zu deren Gestaltung benötigte Maßnahmen berühren aber in vielen Punkten diejenigen, die man für die Beleuchtung berücksichtigen muss. Eine in diesem Sinne sehr informative Darstellung zeigt den Bedarf an Koordination zwischen den Gewerken bei der Planung und Realisierung eines Bürohauses. Obwohl sie auf ein Alter von etwa 50 Jahre zurückblickt, hat sie an Aktualität kaum eingebüßt. Man muss sie aber immer aus der Sicht der Fachleute eines Gewerks betrachten. Die Abbildung stellt die Problematik aus der Sicht des Lichtplaners dar.6Quelle: FGL Fördergemeinschaft Gutes Licht
Wenn Beiträge von 10 Parteien zum Gelingen einer Planung sowie eine Zusammenarbeit zwischen diesen erforderlich ist, kann also der Beitrag von einer Partei nicht allein bestimmend für das Ergebnis sein. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber ein Großer aus der Disziplin Licht musste sich aufraffen und der Fachwelt die Leviten lesen.
Warum die magische Formel nie existieren kann ...
Boyce‘ schriftliche Standpauke erklärt, warum es keine einfache Beziehung zwischen der Beleuchtung und der Arbeitsleistung geben kann. Er fängt damit an, zu erklären dass die Arbeitsleistung und die Sehleistung zwei Paar Stiefel sind. Warum dies? Weil Boyce wusste, dass in der lichttechnischen Literatur die beiden Dinge durcheinander gebracht werden. Klar, ohne Licht keine Arbeitsleistung. Ergo, geht die Arbeitsleistung auf das Konto von Beleuchtung. Diese simple Rechnung war schon 1924 in Hawthorne nicht aufgegangen. Und 1993 musste ein anerkannter Professor die Sache noch einmal erklären. Das aber später.
Boyce erklärt, die einzige Leistung, die die Beleuchtung beeinflussen kann, wäre die Sehleistung. Was er 1993 nicht hatte sagen können, war dass auch im 21. Jahrhundert niemand weiß, was Sehleistung ist. In der guten alten Zeit, also als die CIE eine Tochter der IEC, der Elektrotechniker, war, definierte sie die Sehleistung auf eine recht eigentümliche Weise: "Sehleistung - Leistung des visuellen Systems, wie sie beispielsweise durch die Geschwindigkeit und die Genauigkeit gemessen wird, mit welcher eine Sehaufgabe gelöst wird.”7Internationales Wörterbuch der Lichttechnik, CIE Wien, 1987 Da haben wir es, eine Definition mit mehreren Unbekannten. Was das visuelle System ist, steht nirgendwo geschrieben. Welche Leistung es wie erbringt, müsste noch geklärt werden. Und die Sehaufgabe? Wer hätte es nicht gerne gewusst, was das ist!
Andere wollten den Begriff besser fassen und schrieben nunmehr dies: „Sehleistung – Leistung des visuellen Systems“.8DIN EN 12665:2002 Licht und Beleuchtung, Grundlegende Begriffe und Kriterien für die Festlegung von Anforderungen an die Beleuchtung Da weiß man es erst richtig, was man erzielen will, wenn man Normen erstellen will, die Sehleistung erzeugen sollen. Vorerst das Ende der Begriffsfindung lautet: „die Qualität der Leistung des visuellen Systems eines Betrachters in Bezug auf direktes und peripheres Sehen“ .9E-ILV Internationales Wörterbuch der Lichttechnik, @ Begriff 17-29-005, abgerufen 22.10.2022, übersetzt vom Autor Da es nur die beiden Arten Sehen gibt, hätte man die Definition noch einfacher fassen können: die Qualität der Leistung des visuellen Systems. Jetzt weiß der Fachmann genauso viel wie der Laie.
Die so formulierte Größe Sehleistung spielt genau diese Rolle in der Normung der Beleuchtung: „Dieses Dokument legt Beleuchtungsanforderungen für Menschen an Arbeitsplätzen in Innenräumen fest, die den Anforderungen an den Sehkomfort und die Sehleistung von Personen mit normalen oder auf normal korrigiertem Sehvermögen entsprechen.“ 10DIN EN 12464-1:2021 Licht und Beleuchtung — Beleuchtung von Arbeitsstätten — Teil 1: Arbeitsstätten in Innenräumen, Geltungsbereich
Eine Beleuchtung kann eine gewünschte Wirkung, hier Sehleistung, dann entfalten, wenn diese von Fachleuten erstellt wird, die die Ziele kennen und die verfügbaren Mittel zu deren Erreichung, hier die Beleuchtungsnorm, erfolgreich umsetzen. Was tut ein Lichtplaner, wenn nicht einmal das Hauptziel begreifbar definiert oder auch nur umschrieben wird? Er tut, was er kann. Allein deswegen, wird man in der Praxis immer wieder feststellen, dass Boyce recht hatte. Man kann keine Beziehung zwischen der Arbeitsleistung und den Beleuchtungsbedingungen feststellen. Allerdings muss man sich davor hüten, zu behaupten, es gäbe keine. So gesehen war man 1993 nicht viel weiter als 1924, und in 2023 ist man etwa ebenso weit. Entweder ist der Stand der Technik so weit, dass ein durchschnittlicher Planer Arbeitsplätze so Beleuchtungen kann, dass dort die Arbeitsleistung gefördert wird. Dann ist die Norm überflüssig. Oder der Planer benötigt die Bestimmungen der Norm, um seine Aufgabe zu erfüllen. Dann muss die Norm aufzeigen, wie man ihre Ziele erfüllt. Die notwendige Voraussetzung hierfür ist die präzise Angabe dieser Ziele und eine Anleitung, wie man diese erreicht. Diese ist nicht gegeben. Ganz im Gegenteil!
Legendenbildung durch Vortäuschen einer wissenschaftlichen Grundlage
Zum Thema Legendenbildung
Die nachfolgenden Abschnitte zeigen Fälle aus der Lichtanwendung oder Lichttechnik auf. Ähnliche Vorgehen sind aber keineswegs auf dieses Sachgebiet beschränkt. Man kann sogar nachweisen, dass das systematische Täuschen seit mindestens 200 Jahren zum Handwerkzeug eines beliebigen Journalisten aus der Wirtschaftpresse gehört. Dies wird z.T. aus lauteren Motiven praktiziert, weil man manchen Veränderungen, z.B. Börsenkurse, anders kaum visualisieren kann. Ähnlich gehen Techniker und Wissenschaftler vor, die ein Ergebnis deutlicher herausstellen wollen. Sie zeigen dazu Diagramme auf, deren Nullpunkt sie gezielt verschieben.
Ob eine Visualisierung der Verdeutlichung eines Sachverhalts dient oder nur zum Täuschen gewählt wird, lässt sich i.A. nicht genau sagen. Edward R. Tufte hat in seinem Buch „The Visual Display of Quantitative Information” die raffinierten Methoden zur Täuschung, aber ebenso der sachlichen Visualisierung wunderbar erläutert.11Tufte, E.T., The Visual Display of Quantitative Information, Graphics Press, Cheshire/Connecticut (USA), 1985 Die Tradition dieser Täuschungen geht auf diese Abbildung zurück, die die Verschuldung von England im 17. Und 18. Jahrhundert darstellen soll. Eine zweifelslos imponierende Entwicklung.
Indes lässt sich mit trivialen Mitteln erreichen, dass sie nicht so dramatisch aussieht. Die von mir vorgenommene Änderung würde bei unachtsamen Betrachtern auch so durchgehen. Wer etwas raffinierter vorgehen will, muss nur die Typographie korrekt darstellen. Die hier gezeigte Täuschung gehört zu den beliebten und arbeitet mit der Sehweise des Auges. Es scannt ein Bild in horizontale Scheiben, als würde man etwas lesen. Dies erfolgt völlig unbewusst. Das seit Jahrzehnten gepflegte Bild vom Auge, das Bilder etwa analog zu einer Kamera aufnimmt, ist vollkommen fehlerhaft. Man kann es sich mit einer Helmkamera vorführen, wenn man z.B. ein Fernsehbild im Stehen und Liegen betrachtet und aufzeichnet. Das Auge sieht in beiden Lagen dasselbe Bild, die Kamera dreht es um 90º.
Genau was hier erläutert wurde, ergänzt durch den Trick, den Nullpunkt einer Darstellung unbemerkt zu verlegen, bildete eine der wichtigsten Legenden zum Thema Arbeitsleistung und Beleuchtungsstärke. Eines der Argumente von Boyce für die Unmöglichkeit, eine Beziehung zwischen Beleuchtungsbedingungen und Arbeitsleistung zu finden, lautete, dass das Sehen zwar Licht braucht, aber dieser visuelle Vorgang noch nicht das Erkennen bedeutet. Das Gehirn verarbeitet das, was das Auge als „Kamera“ aufnimmt, unmittelbar und interpretiert es. Bewusst kann man den Prozess nicht steuern.
Die Protagonisten und Akteure
Wenn von einer Aktion Wirtschaftsunternehmen profitieren, die die dazugehörigen Produkte entwickeln und verkaufen, liegt es nahe, deren Marketing als die treibende Kraft zu vermuten. Tatsächlich kann man wunderbare Beispiele dafür finden, wie das Marketing Menschen dazu bringt, Produkte zu kaufen, die sie nie vermissen würden. Bei Licht sieht die Sache aus meiner Erfahrung recht anders aus. Denn Menschen haben künstliches Licht erfunden, lange bevor jemand dieses anfing zu verkaufen. Selbst Leute, die künstliches Licht am Arbeitsplatz hassen, besitzen mit Sicherheit ein Dutzend oder mehr Lampen zu Hause. Gesellschaften, die sich keine Elektrizität leisten konnten, haben halt mit Walrat oder Kienspan beleuchtet (siehe Licht 1.0). So gesehen verkauft sich Licht wie geschnitten Brot.
Nicht ganz, denn man musste den Menschen manches erst näher bringen, was man alles mit Licht anstellen kann. In diesem Sinne funktionierte z.B. die „Fördergemeinschaft Gutes Licht“. Sie stellte ansprechende Beispiele für verschiedene Anwendungsbereiche in Broschüren zusammen. Diese enthielten viele Empfehlungen und Tipps. Die Organisation ist in licht.de aufgegangen und wirkt im Wesentlichen im Internet. Insofern unterscheidet sie sich von anderen industrienahen Absatzförderorganisationen nicht. Bei der Lichtbranche ging es aber früher nicht nur um den Absatz von Leuchten, sondern auch von Strom. Die Elektrizitätswerke unterhielten früher auch Modellküchen in großen Städten, um das Kochen mit Strom populär zu machen. In den 1950er Jahren gab es große Kampagnen in vielen Städten, um Licht und Beleuchtung zu propagieren und damit mehr Strom zu verkaufen.
Eigentlich müssten die Ergonomen die besten Protagonisten für die Förderung von Licht sowohl in der Arbeitswelt als auch im Privatbereich sein, denn es gibt praktisch keine Arbeitsräume, an denen man ohne künstliches Licht arbeiten kann. Da es nicht gleichgültig sein kann, wie eine Beleuchtung beschaffen ist, damit man effizient und in angenehmer Umgebung arbeiten kann, wären die Ergonomen dazu prädestiniert, gutes Licht zu erproben und zu definieren. Da ein wichtiger Vorgänger von ihnen, Leffingwell, sich intensiv mit Licht und Sehen beschäftigt hatte, müsste man in modernen Zeiten noch viel mehr ergonomisches Wissen in der Lichttechnik finden. Wer so denkt, wird angesichts der vorhandenen Literatur schwer enttäuscht sein. Es gibt Handbücher der Ergonomie bis 2000 Seiten, in denen man das Licht vergeblich sucht.12Beispiel: Salvendy, G.; Karwowski, W., Handbook of Human Factors and Ergonomics, Wiley, New Jersey, 2021, ein Buch, das alle Aspekte von Ergonomie behandeln soll. Es hat 1576 Seiten ohne einen Bezug auf Beleuchtung. Das Sehen wird recht umfangreich behandelt. Aber Licht und Beleuchtung kommen darin nicht vor.
Frühere Lichttechniker wie Hopkinson haben sogar Bücher zur Ergonomie des Lichts geschrieben.13Ralph Galbraith Hopkinson, The Ergonomics of Lighting, 1970 Der bereits erwähnte Autor Peter Boyce hat zwar ein komplettes Buch über Human Factors in Lighting verfasst, in dem Bezüge zur Ergonomie aber schwer zu finden sind.
Bleiben noch Institute für Lichttechnik, die sich Pflichtgemäß mit Licht beschäftigen. Diese waren jedoch viele Jahrzehnte in Sachen Beleuchtung eine Fehlanzeige, weil sie meinten, Beleuchtung sei keine akademische Aufgabe. Sie wäre bei Fachhochschulen besser aufgehoben.
Größere Impulse kamen eher von den Lichtplanern und Lichtdesignern, eine buchstäblich schillernde Gruppe. Diese ist zum einen heterogen besetzt, man kann dort von Elektromeistern bis Lichtkünstlern alles finden. Deren Beitrag zur Beleuchtung von Arbeitsräumen bleibt aber bescheiden. So habe ich in über vier Jahrzehnten Beratungspraxis nur in ca. 5% der Projekte Lichtplaner oder Lichtdesigner erlebt. Das korrespondiert etwa mit dem Anteil der Leuchten, die beim Elektrogroßhandel über den Ladentisch gehen. Ohnehin ist Lichtplaner kein feststehender Begriff für einen Beruf. Vielmehr versucht man auch heute noch sehr mühsam, ein Berufsbild zu schaffen.
Architekten, die einst das Licht im umbauten Raum beherrschten, spielen in der Welt der künstlichen Beleuchtung eine untergeordnete Rolle, weil die Gestaltung dieser Technik wenig honoriert wird. Hingegen ist die einst ausschlaggebende Kunst, das Tageslicht in die Gebäude einzubringen, in den Hintergrund getreten ist. Eigentlich sollte sie theoretisch überflüssig geworden sein. Aber eher das Gegenteil ist der Fall, denn Arbeitsräume werden von Architekten geschaffen. Deren Fassaden sind wegen vielfältiger Anforderungen an die Gebäudeenergieeffizienz zu einer Art „Fassadenmaschine“ geworden. Hierzu gehört auch der Einlass von erwünschter wie die Abwehr unerwünschter Strahlung der Sonne, Belüftung möglichst ohne Wärmeverlust etc. Allein das Abstimmen der künstlichen Beleuchtung mit der natürlichen ist eine recht komplexe Kunst geworden. Wenn sich der Architekt dieser Aufgabe nicht voll annehmen kann oder will, muss man eher mit Stückwerk rechnen. Auch wenn wir es seit 1935 gewohnt sind, Licht im Raum aus zwei Stückwerken zusammen zu basteln (seit 1935 gibt es getrennte Normen für die künstliche und natürliche Beleuchtung), muss das nicht heißen, dass es so bleiben darf.
Eine Gruppe von Menschen, die schwer fassbar ist, betreibt recht freiwillig „Marketing“ für Licht. Das sind Personen, die Lichttechnik gelernt oder studiert haben und sich damit tiefergehend beschäftigen. Sie sind meistens begeistert von ihrem Beruf und dessen Gegenstand.
Ein experimenteller Nachweis: Mehr Licht steigert Arbeitsleistung
Eine Darstellung, deren Quelle im Dunklen liegt, kursierte so häufig in der Literatur, dass sie es sogar in ein Lexikon der Psychologie geschafft hat. 14Drever, J.; Fröhlich, W.D., Wörterbuch zur Psychologie, dtv, München, 1968 Sie zeigte scheinbar objektiv und experimentell begründet, wie man bei der Arbeit die Leistung mit einer höheren Beleuchtungsstärke steigert und gleichzeitig die Ermüdung senkt. Also eine wahre Win-Win-Situation.
Selbst bei einer näheren Betrachtung fallen einem die Schwachstellen der Abbildung nicht auf, zumal jeder Mensch aus Erfahrung angeben wird, dass er bei mehr Licht besser sieht. Dass diese Erfahrung aber meist aus einer Schwarz-Weiß-Betrachtung stammt, fällt einem nicht auf. Man vergleicht Sehen im Dunkeln gegen das Sehen im Licht. Nur wer diffizile Sehaufgaben leisten muss, so einen Faden durch die Öse einer Nadel zu ziehen, weiß definitiv, dass man u.U. viele tausend Lux benötigt, um hinreichend gut zu sehen. In der heutigen Welt, in der das Erzeugen von viel Licht häufig nur ein Drücken eines Tasters erfordert und kaum mit unangenehmen Begleiterscheinungen wie Ruß und Wärme verbunden ist, scheint die Abbildung glaubhaft und ihre Botschaft zumindest plausibel.
Wir sehen eine sich recht wissenschaftlich anmutende Kurve, die eine logarithmisch aufgeteilte Achse aufweist. Bei einer grafischen Darstellung von physiologischen Wirkungen von physikalischen Größen ist dies vermutlich die wahrscheinlichste Beziehung. Allerdings werden in der Lichttechnik Beleuchtungsstärken so gut wie nie logarithmisch aufgetragen. Denn in dieser Darstellung scheint die Differenz zwischen 1000 lx und 300 lx geringer als die zwischen 300 lx und 100 lx. Nicht gerade umsatzfördernd. Viel geschäftsschädigender sieht die Strecke zwischen 1000 lx und 2000 lx aus.
Kaum jemand merkt, dass die Achse mit der Beleuchtungsstärke keinen Ursprung hat. Sie könnte bei 10 lx oder 1 lx anfangen, wie es logarithmische Achsen immer tun. So weiß wirklich niemand, worauf sich 100% der vertikalen Achse bezieht, was Sinn macht. Bei einer anderen Darstellung fängt sie bei 30 lx an. Von diesem Wert von 30 lx (= 100%) aus steigert eine höhere Beleuchtungsstärke die Leistung ungeheure 11%, wenn die Beleuchtungsstärke 2000 lx beträgt.
Verlängert man dieses Diagramm bis die vertikale Achse bei 0 beginnt, müsste man sie bei der vorgegebenen Breite auf etwa drei Seiten verlängern. Dann wir deutlich, welcher Unsinn hier suggeriert wird. Die Kurve der relativen Ermüdung sieht bei einer genauer Betrachtung noch lustiger aus. Sie fängt bei 30 lx bei 105% an. Sie nimmt mit zunehmender Beleuchtungsstärke bis 1000 lx ab und steigt wieder. So beträgt die Leistungszunahme zwischen 300 lx und 1000 lx ganze 1,5 %. Und die Abnahme der Ermüdung beträgt 0,2 %.
Ich hatte aber bei der Darstellung der Hawthorne Experimente erläutert, dass man eine Beziehung zwischen der Beleuchtung und Leistung gar nicht ermitteln kann. Die Autoren diesen Bildes wollen aber eine Zunahme von 1,5% festgestellt haben.
Der Unsinn dieser Behauptung ist aber nichts dagegen, eine Minderung der Ermüdung um 0,2 % festgestellt zu haben. Denn bis heute ist Ermüdung nicht definiert und kaum messbar. Wer hat diese Daten wo erhoben? Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage bin ich auf einen noch größeren Unsinn gestoßen, der noch deutlicher zeigt, mit welchen Kräften man der elektrischen Sonne zum Aufstieg helfen musste.
Die Kurve erläuterte mir ein Wissenschaftler, der ihren Werdegang gut genug kennen muss, Prof. Erwin Hartmann, München. Die Erläuterung fiel so aus, dass er eigentlich bei allen Kollegen hätte vorstellig werden müssen, um diese Darstellung aus dem Verkehr zu ziehen. Doch er tat etwas anderes, was ich weiter unten anführe. Die vermeintliche Leistungssteigerung wurde nach Hartmann beim Perlenaufziehen ermittelt.15Gemäß Hartmann wurde die Zahl der Perlen, die von Frauen beim Perlenaufziehen in einer Zeiteinheit korrekt aufgezogen waren, als Leistung bezeichnet. Eine Ermüdung wurde erst gar nicht gemessen. Die Untersucher postulierten, wer ermüdet sei, mache mehr Fehler. So wurden die falsch aufgespießten Perlen pro Zeiteinheit als Ermüdung gewertet. Bleibt noch zu klären, warum die „Ermüdung“ von 1000 lx an ansteigt. Dies wäre auf die Versuchsanordnung zurückzuführen, die mit Glühlampen arbeitete. Sie produzierten zu viel Hitze.
Mehr als nur Legendenbildung
Die Vorstellung, dass mehr Licht mehr Arbeitsleistung bringe und auch noch die Ermüdung bei der Arbeit reduziere, wurde durch Autoren, die nicht mehr feststellbar sind, weiter betrieben. Es entstanden neue Varianten der oben besprochenen Kurven. Ausgesprochen Erwin Hartmann, von dem feststeht, dass er die Hintergründe kannte, verbreitete noch besser geschmückte Versionen von der Legende, diesmal in amtlichen Auftrag auf „amtlichem“ Papier. Die „Studie“ mit dem Titel „Beleuchtung am Arbeitsplatz“ des Bayrischen Staatministeriums für Arbeit und Sozialordnung von 1982 enthält unter der Rubrik „5.1 Beleuchtungsstärke und Arbeit“ wissenschaftlich aussehende Abbildungen, die bis heute im Arbeitsschutz verbreitet werden. Kein Wunder, denn das Ministerium wollte damit die betrieblichen Fachkräfte informieren. „… Bitte geben sie die Broschüre auch an andere Stellen im Betrieb weiter, z.B. an den Betriebsarzt oder an die Sicherheitsfachkräfte.“16Das Bayerische Staatministerium für Arbeit und Sozialordnung (jetzt Bayerisches Staatministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration) gab über viele Jahre Aufträge an bekannte Wissenschaftler und Autoren, relevante Themen zum Arbeitsschutz relativ kurz und prägnant darzustellen. Diese studierten die Literatur, daher der Titel „Studie“, und verfassten ein Papier, das sich an betriebliche Akteure richtete. Anders als Veröffentlichungen von Forschungsarbeiten, die in staatlichem Auftrag vergeben wurden, findet sich bei diesen Studien – in keiner, die mir bekannt ist – kein Vermerk, dass verantwortlich für den Inhalt der Autor ist. Daher der Vermerk, dass die hier besprochene Studie auf „amtlichen“ Papier gedruckt sei. Der angeführte Vermerk bedeutet nicht etwa eine Distanzierung von dem Inhalt oder dem Autor, sondern Ausdruck der tatsächlichen Verhältnisse. Der Herausgeber kann zwar die Inhalte in gewissem Umfang prüfen, er kann aber nicht sicherstellen, dass dieser unter allen Gesichtspunkten „korrekt“ sei. Mit der Vergabe des Auftrages an eine Stelle oder einen Autor und der Herausgabe des Ergebnisses hat sich die staatliche Stelle hinreichend zu dem Projekt bekannt.
Der Wunsch des Ministeriums fand Anklang. So finden sich die entsprechenden Bilder z.B. in einer aktuellen Information von BGHM (Berufsgenossenschaft Holz und Metall), aber auch im Schulungsmaterial von Beratungsunternehmen.17BGHM -Information Mensch und Arbeitsplatz in der Holz- und Metallindustrie, S. 31 Zunächst die Originale von Hartmann und danach die viel schöneren Abbildungen von der BGHM und eines Beratungsunternehmens. Im Laufe der Zeit wurden die Abbildungen immer professioneller und scheinen daher auch immer glaubhafter.
Diese Darstellung zeigt, dass die Arbeitsleistung immer mit der Beleuchtungsstärke ansteigt, bei einfachen Arbeiten relativ moderat, bei schwierigen Arbeiten sehr steil. Hartmann gibt dazu weder ein Quelle an noch einen Hinweis auf die Arbeit, postuliert aber das Ergebnis. „Tatsache ist, daß die Sehleistung mit zunehmender Beleuchtungsstärke ansteigt …“ 18Hartmann, E. Beleuchtung am Arbeitsplatz, Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1982, München, S. 32 Tatsache! Wenn ein Professor im Namen eines Staatsministers für Arbeit etwas so überzeugend darstellt, muss der Arbeitsschutz dem folgen. In der Darstellung von BGHM sieht die Sache viel hübscher aus.
Nunmehr ist aus Sehleistung Arbeitsleistung geworden. Man kann hier sogar recht genau ablesen, dass bei schwierigen Arbeiten die Leistungssteigerung von 15% bei 200 lx auf 42% bei 1000 lx hoch geht. Recht imponierend. Die BGHM beruft sich übrigens nicht auf das Bayrische Staatministerium, sondern auf die Firma Zeiss Ikon, die einst auch Leuchten herstellte, aber längst nur noch Schließsysteme produziert. Ein Abgesang auf vergangene Zeiten? Wo die wahre Quelle der Information liegen mag, lässt sich nicht mehr feststellen. Es gibt einige Dokumente, die von einem Deutschen Lichtinstitut sprechen. Wo dieses selber abgeblieben ist, lässt sich trotz intensiver Recherche nicht mehr feststellen. Feststellbar sind mögliche Studien dieses Instituts, aus einer Broschüre aus dem Jahr 1970, weil komplett vorhanden.19Deutsches Lichtinstitut, Grundlagen der Lichttechnik – Ein kleines Kapitel praktischer Lichttechnik, , 1970, 18. Auflage, Wiesbaden, Verlags- und Wirtschaftsgesellschaft der Elektrizitätswerke m.b.H. VWEW – Frankfurt (Main) 70, Stresemannallee 23 Dort wird eine Langzeitstudie angeführt, die eine Produktivitätssteigerung von 7,6 % durch eine verbesserte Beleuchtung zeigt. Da diese Studie den Fehler der Hawthorne Experimente nicht wiederholt, es wird die Gesamtleistung eines Betriebes herangezogen und nicht einer kleinen, besonders behandelten Gruppe von Menschen, und die ermittelte Steigerung moderat scheint, ist das Ergebnis durchaus plausibel. Die an dieser Stelle besprochenen Darstellungen können in einer Druckschrift mit dem Titel „Rationalisierungsmöglichkeiten durch Licht“ enthalten sein.
Der Broschüre vom Deutschen Lichtinstitut lässt sich entnehmen, wie es erklärt, dass besseres Licht ein Rationalisierungsfaktor sein kann, nämlich durch „leichtes Sehen, gesteigertes Wohlbefinden und Aktivierung durch Licht“. Diese würden die Unfälle, Fehlerzahl und Ausschuss vermindern und somit zu einer besseren Arbeitsleistung führen. Alles Argumente, die man auch heute in vielen Publikationen lesen kann.
Es steht aber noch mehr in dieser Broschüre. Sie erklärt, dass der Einfluss des Lichtes auf den Menschen nicht nur auf das Sehen beschränkt. Was in dürren Sätzen folgt, bewegt seit 2002 die gesamte Lichttechnik aber insbesondere die Medizin. Seitdem sind zehntausende von Artikeln zum Thema erschienen. Und nicht zuletzt die CIE hat ihre Grundsätze über Bord werfen müssen.
Der hier in Faximile abgebildete Satz stellt die Quintessenz der in September 2022 erschienenen CIE-Standards zu nicht-visuellen Wirkungen von Licht. Da die Broschüre von 1970 keine direkte Textverweise enthält, kann die Quelle nur vermutet werden. Die Erkenntnis geht vermutlich auf die Forschungsarbeiten von Prof. Hollwich, einem deutschen Augenmediziner, zurück.20Professor Fritz Hollwich war Internist und Augenarzt und von 1964 bis 1977 Chefarzt der Universitäts-Augenklinik in Münster. Er erforschte seit Ende der 40er Jahre den Einfluss von Licht auf die Regulation des Stoffwechsels bei Mensch und Tier. Seine Forschungen belegten die Bedeutung des Lichts für den gesamten Organismus des Menschen, beispielsweise in Hollwich, F., Über die Bedeutung des Lichts für die Lebensvorgänge. Med. Mschr., Stuttgart, 1950 Seine damaligen Erkenntnisse wurden nicht etwa als Innovation aufgenommen. Vielmehr wurde er bekämpft, und seine Ansichten wurden ins Lächerliche gezogen. Denn sie passten nicht zu der Lesart in der Lichttechnik, dass man mit Licht mehr Leistung erzielen täte. Denn mit der Idee einer Beeinflussung der menschlichen Physiologie in der Arbeitswelt konnten und können Arbeitgeber wie Arbeitsschützer nichts anfangen. Traditionell sind sich beide einig, dass relevante Umgebungsbedingungen nur dahingehend geändert werden, dass Störungen beseitigt oder vermieden werden, aber keine Beeinflussung in dem Sinne stattfindet, dass man die Umgebung „gesünder“ oder „leistungsförderlicher“ gestaltet. Beispielsweise kann verschmutzte Innenluft so weit gereinigt werden, dass sie der Außenluft entspricht. Aber man hütet sich davor, die Luft z.B. mit Duftstoffen zu versehen, die sich positiv auswirken sollen.21Das besprochene Verhalten beruht auf einer langen Tradition, deren Berechtigung z.B. an der einst durchaus üblichen Musik am Arbeitsplatz erklärt werden kann. Der große Protagonist war die Firma Muzak Inc., dessen Produkt die sog. Gebrauchsmusik war. Zunächst waren Ladengeschäfte oder Hotels als Kunde vorgesehen. Aber in 1966 setzt fast 50% der Kundschaft die Musik an den Arbeitsplätzen ein. Zu der damaligen Technikeuphorie gehörte auch die mit dem Schlagwort social engineering verbundene Vorstellung, es sei möglich, das Verhalten von Menschen in der Gesellschaft oder in Organisationen zu optimieren, beispielsweise das Verhalten von Belegschaften und Kunden. In den 1950er und 1960er Jahren versuchte Muzak die positive Wirkung von Hintergrundmusik wissenschaftlich zu untermauern. Man kann das Optimieren auch als Manipulieren auffassen.
Die jüngste Variante des Diagramms, das eine rasante Zunahme der Leistung mit der Beleuchtungsstärke anzeigt, stammt von einem Unternehmen, das Betriebe in der Arbeitsgestaltung berät.22Quelle: ehlers media, Kommunikation | Medien | Design Ergonomie Wissen kompakt @ abgerufen 22.10.2022 Es fängt allerdings bei 0 an, also in der Nacht oder im tiefen Keller. Wenn man die nicht vorhandene Beleuchtungsstärke auf 1000 lx steigert, erreicht man bei schwierigen Tätigkeiten eine Leistungssteigerung um 45% gegenüber der Dunkelheit. Bemerkenswert: Die Skala ist jetzt fast linear, der Anstieg bei schwierigen Tätigkeiten aber so imposant wie beim Original. Ob die Kundschaft merkt, dass das derart verhübschte Bild Fakten darstellt, die keine sein können? Mit Sicherheit nicht. Wenn Professoren der Lichttechnik solche Darstellungen in Vorlesungen benutzen, kopieren andere, hier Ergonomen, diese unreflektiert. So entsteht aus einem nicht mehr auffindbaren Original aus den 1960ern unverdächtige Kopien wie diese im Jahr 2022.
Da zu einer echten Produktivitätssteigerung neben einer höheren Leistung auch eine höhere Qualität gehört, wurde auch dieser Faktor bebildert. Naturgemäß gehört zur Perfektion eine bessere Arbeitssicherheit und eine geringere Ermüdung. Insgesamt fand ich bei BGHM vier schöne Bilder ohne Quelle, davon Kopien bei einem Beratungsunternehmen, die wiederum bei Herstellern von Leuchten und Verkäufern von Licht kopiert werden.
So einfach kann man es jemandem machen, der dazu überredet werden soll, in Licht zu investieren. Einfach 1000 lx überall, und schon wird die Leistung enorm gesteigert, Ermüdung halbiert, Fehler vermieden und die Arbeitssicherheit erhöht. Warum kommen die für Leistung, Fehler und Ermüdung verantwortlichen Führungskräfte oder REFA-Ingenieure nicht darauf?