Geburtsjahre der elektrischen Sonne

Geburtsjahre der elektrischen Sonne

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Das elektrische Licht verdankt seine Existenz nicht einem Geistesblitz eines einzelnen Erfinders oder der wissenschaftlichen Arbeit bzw. technischen Entwicklung in einem bestimmten Land. Es ist vielmehr ein Jahrhundertwerk – das Werk des 19. Jahrhunderts. Dieses Jahrhundertwerk bildet den geistigen Hintergrund einer technischen Entwicklung, an dessen Ende bahnbrechende Erkenntnisse in der Physik um oder über Licht standen. So fand der Physiker Max Planck sein Plancksches Strahlungsgesetz zum Ende dieses Jahrhunderts, und kurz danach im Jahr 1905 veröffentlichte Albert Einstein sein Hauptwerk, die Relativitätstheorie.

Das 19. Jahrhundert sollte  Zeuge von reihenweise ungewöhnlichen Ereignissen werden wie der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika etwa in ihrer jetzigen Form, der Zerstörung des europäischen Staatengefüges durch Napoleon oder eines Jahres ohne Sommer, das einer biblischen Plage nahe kam bzw. diese sogar weit überflügelte. Die Industrielle Revolution, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, fand ihre Kulmination im 19. Und führte große Teile der Welt von einer Agrargesellschaft in die sog. Industriegesellschaft über. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang in England, erfasste ganz Westeuropa und die USA und später auch Japan. Hatte der Vulkan Tambora 1815 die Welt für einige Jahre in Dunkelheit gehüllt (Jahr ohne Sommer, 1816), so tauchte die Industrielle Revolution ihre Metropolen dauerhaft in eine relative Finsternis. Die Industriearbeiter sahen kaum die Sonne, weil sie arbeiten mussten, wenn diese Licht spendete. Und das gespendete Licht wirkte blass, weil der Himmel voll Staub und Rauch war.

Zweifellos bildete die Nutzung der Elektrizität im Haushalt und in der Industrie, die im 19. Jahrhundert begann, eine der größten Errungenschaften der Geschichte. Und dies ermöglichte die Entwicklung der Glühlampe, die ihrerseits den Boden für die Verbreitung der elektrischen Energie bereitete. In ihrem Licht konnten nicht nur die Arbeiter in den Fabriken effizienter arbeiten. Auch Wissenschaftler, die über oder mit Licht forschten, konnten besser und länger am Stück arbeiten, weil sie für ihre Forschung nicht mehr auf das natürliche Licht angewiesen waren. Dies führte zu einem beispiellosen Aufstieg der deutschen Physik zur Weltgeltung, wie David Cahan in einem Werk über die Entstehung der Physikalisch Technischen Reichsanstalt (heute PTB Braunschweig) beschrieb.1David Cahan, Meister der Messung - Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt im Deutschen Kaiserreich, VCH, Weinheim, New York, Basel, Cambridge, 1992

Die so beschriebene Reichsanstalt (PTR) wurde auf Betreiben von Werner von Siemens gegründet, einem der Pioniere des Lichts. Dasselbe gilt für die deutsche Patentgesetzgebung, deren Vorläufer wegen der Kleinstaaterei in Deutschland wenig erfolgreich war. Die „Meister der Messung“ (so nach Cahan) nutzten das dezimalmetrische System, das den Revolutionären von Frankreich geeignet schien, mit Traditionen vollständig zu brechen. Dieses war 1793 eingeführt worden. Es sollte seinen Siegeszug um den Globus im 19. wie im 20. Jahrhundert fortsetzen.

Eine kurze Betrachtung des 19. Jahrhunderts mit seinen besonderen Höhepunkten und Ereignissen hilft sicherlich sehr zum Verständnis der späteren Vorgänge. Da sich das Weltgeschehen nicht nach Jahreszahlen ein- und ausschalten lässt, soll als 19. Jahrhundert das „Lange 19. Jahrhundert“ verstanden werden, so benannt nach einer Trilogie des britischen Universalhistorikers Hobsbawn mit dem gleich lautenden Titel.2Hobsbawn war ein Beispiel für “Multikulti“ wie auch sein Name. Seine jüdischen Großeltern hießen noch Obstbaum, als sie 1840 von Polen nach England auswanderten. Der Familienname wurde dort als Hobsbaum verzeichnet. So hieß der Vater entsprechend Percy Hobsbaum. Die Mutter war eine Wienerin und gehörte damit zur Zeit der Eheschließung zur „Gegenpartei“ im 1. Weltkrieg. Daher heirateten die Eltern in Zürich und wanderten nach Ägypten aus. Durch einen Fehler bei der Registrierung ihres Kindes entstand der Name Hobsbawm. Doch damit nicht genug. Nach dem Krieg zog die Familie nach Wien, und es ging später zum Onkel nach Berlin. Dort konnten sie nach der Machtergreifung Hitlers nicht bleiben. So zog die Familie nach England. Das Lange 19. Jahrhundert bestand aus der Geschichte europäischer Revolutionen, dem Zeitalter des Kapitals und dem Zeitalter des [britischen] Empire. Und der Erfinder des Namens der Epoche, Eric Hobsbawm, war Anhänger einer Ideologie, deren Schöpfer Marx und Engels das Elend der Arbeiter in Industriezentren wie Manchester oder London erlebten. Das 19. Jahrhundert sollte nicht nur Zeuge von viele sozialen Revolutionen werden, sondern auch die Bewegungen in viele Industrieländern zeugen, mehr Licht in die Städte und Arbeits- und Wohnräume zu bringen. Man hatte gelernt, dass Morbus Anglorum nicht etwa die „Englische“ Krankheit war, sondern dem Lichtmangel zu verdanken.

Die Idee, das 19. Jahrhundert mit den Französischen Revolution beginnen zu lassen, scheint vor dem Hintergrund der generellen Einführung des dezimalmetrischen Systems gerechtfertigt. Eine kleine Weltrevolution …

Es geschah um 1801 …

Nicht erst 1801, sondern bereits 1789 bis 1799 ereignete sich ein politischer Umbruch, der kaum gewaltiger hätte ausfallen können, die oben genannte Französische Revolution. Sie gehört zu den Atlantischen Revolutionen, die den Ausgangspunkt für die Entwicklung von modernen Nationalstaaten der Kontinente Europa und Amerika bildeten. Die zwei wichtigsten Atlantischen Revolutionen ereigneten sich in Nordamerika, die Amerikanische Revolution, und in Europa, eben die Französische. Sie haben nicht nur die politische Landschaft der (westlichen) Welt verändert. Mit ihnen erlebte die Industrielle Revolution einen neuen Auftrieb.

Als Geburtsstunde der elektrischen Sonne kann man mit einiger Berechtigung das Experiment von Louis Jacques Thénard bezeichnen, bei dem er zeigte, dass man Metalldrähte durch den elektrischen Strom zum Glühen bringen kann. Thénard war ein bedeutender Chemiker, und zwar so erfolgreich, dass Gustave Eiffel ihn auf die Liste der 72 bedeutendsten Wissenschaftler372 Namen auf dem Eiffelturm @ aufnahm, die an dem Eiffelturm verewigt wurden. Darunter befinden sich Namen wie Poisson (Mathematik, Statistik), Coulomb, nach dem die SI-Einheit der elektrischen Ladung benannt ist, Laplace (Mathematiker und Astronom) oder Becquerel (Physiker), der einer weiteren SI-Einheit den Namen gegeben hat. Nicht zu vergessen Ampère, dessen Name wohl bei jeder Abhandlung über Licht und Lampen mindestens einmal angeführt werden muss, bei Abhandlungen zum elektrischen Strom immer, seien sie auch noch so einfach wie eine Angabe zu einer Sicherung auf deren Gehäuse.

Ein Erbe des beginnenden 19. Jahrhunderts hört auf den Namen „arc-lamp“ (auf Deutsch Bogenlampe). Die erste Ausführung dieser Lampe von Humpry Davy im Jahre 1802 arbeitete mit waagrecht angeordneten Stäben, deren Entladungsstrecke durch die heiße Luft nach oben gebogen wurde, daher der Name. Das Bogenlicht fand allerdings nie Eingang in Bereichen als Beleuchtung, in denen sich Menschen wohl fühlen wollten. Als Lichtquelle des Filmvorführers war es aber bis in die 1970er Jahre in Gebrauch.

Von dem Experiment von Thénard in 1801 bis zur Präsentation einer Glühlampe sollten aber noch viele Jahre vergehen. Diese nahm der schottische Physiker und Erfinder James Bowman Lindsay 1835 vor. Sein Ziel aber bestand eher darin, eine konstante Erzeugung elektrischer Energie darzustellen. Denn Lindsay interessierte sich vornehmlich für die drahtlose Übertragung von z.B. elektrischer Telegraphie oder Lichtbogenschweißen. Die Lampe spielte daher eigentlich nur eine Nebenrolle.

Der Widersacher der elektrischen Beleuchtung, die Gasbeleuchtung, erlebte in dieser Epoche mehrere Erneuerungen. So wurde im Jahr 1799 die mit Gas betriebene Lampe von Philippe Lebon patentiert. Eine industrielle Erzeugung von Leuchtgas gelang dem Schotten William Murdoch, der es für die Beleuchtung seiner Fabriken einsetzte. Friedrich Winzer, der nach England gegangen war, um Brennstoffe zu studieren, reiste 1802 nach Paris, um die Lampe von Lebon zu untersuchen. Winzer4Winzer war ein Deutscher, der in Großbritannien lebte, als sein Patent erteilt wurde. Sein Name wird auch als Frederick Albert Winsor geschrieben.  erhielt zwei Jahre danach ein englisches Patent, um Gas zur Außenbeleuchtung zu verwenden.5Anonymus Ueber die Urheber der Gasbeleuchtung in England und Frankreich, Band 38, Nr. CIV./Miszelle 5 (S. 410–411), @ abgerufen 2. September 2021

Die Welt um 1801 interessierte sich aber eher für andere Ereignisse. Der Korse Napoleon hatte sich 1799 an die Macht geputscht und löste im Laufe des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts die Ordnung der europäischen Staaten auf. So fiel das Heilige Römische Reich, das seit dem Spätmittelalter existiert hatte, 1806 Napoleon zum Opfer. Er eroberte große Teile von Mitteleuropa. Doch viel bedeutender als seine militärischen Aktivitäten sollten seine politischen Handlungen werden. Die erste war die Einführung von Code civil, womit Napoleon ein bedeutendes Gesetzeswerk der Neuzeit schuf. Mit später erschienenen Strafgesetzbüchern zusammen war ein Werk vollendet, auf dem „noch heute ein Großteil der globalen Justizkultur beruht“.6Abhandlung über Code civil abgerufen 1. September 2021, zu Napoleons Erbe @

Die zweite Handlung von Napoleon findet deutlich seltener Erwähnung. Sie sollte das größte Grundstücksgeschäft der Weltgeschichte werden und das Staatsgebiet der USA auf einen Schlag verdoppeln. Die Rede ist vom Louisiana Purchase von 1803, bei dem Napoleon die französische Kolonie mit einer Fläche von über 2 Millionen km2 an die USA verkaufte. Der Preis betrug ganze 15 Millionen US-Dollar, nach heutiger Kaufkraft ganze 250 Millionen US-$ (zur Umrechnung der Kaufkraft s. hier). Wenn man bedenkt, dass manches Penthouse in New York heute 50 Millionen Dollar und mehr kostet, kostete ein Areal von der Größe der damaligen USA nicht mehr als fünf Dachetagen der Millionenstadt. Aber schon zu Zeiten Edisons sollte der Boden an diesem Ort so teuer werden, dass die Stadt immer dichter bebaut wurde und die Menschen nach Licht lechzten. Als Edison seine Experimente zur Entwicklung der Glühlampe durchführte und sich den Titel „Wizard of Menlo Park“ (Zauberer von Menlo Park) verdiente, waren New York und seine eigene Umgebung in New Jersey für viele Menschen Orte der Finsternis. So brauchten sie das neue Licht nicht nur um die Nacht zu erhellen, sondern sogar um „gesunde Strahlung“ während des Tages zu erleben.

Mit dem Luisiana Purchase waren die ersten Schritte der USA zu einer Großmacht, und das auch als Industriestaat, getan. Doch zurück zu Europa um 1801. Die Revolutionäre aus Frankreich versuchten sich aus der Vergangenheit zu lösen und leisteten dabei ganze Arbeit. Dazu gehört die Einführung des Dezimalmetrischen Systems kurz nach Beginn der Revolution. Frankreich eilte mit diesem in 1793 vollzogenen Schritt Deutschland fast ein Jahrhundert voraus.

Die Geschichte der Maßsysteme dürfte nur unwesentlich kürzer sein als die der menschlichen Zivilisation. Man hat bei deren Aufstellung darauf geachtet, dass ein gewähltes Maß zum einen praktisch nutzbar ist und zum anderen für die Menschen verständlich, d.h. anschaulich. So wurden kostbare Waren in Karat gewogen, einem Maß, das man vom getrockneten Samen des Johannisbrotbaums ableitete. Diese sollen der Legende nach immer das gleiche Gewicht haben. Vermutlich beruht dieses Maß aber darauf, dass man sehr gut vom Erscheinungsbild eines Samens auf dessen Gewicht schließen konnte. Karat ist immer noch eine gesetzliche Maßeinheit, allerdings als 0,2 g. Es würde wenig Sinn machen, Diamanten in Kilogramm zu wiegen oder in Kubikmetern zu messen.

Der Sache mit der Anschaulichkeit eines Maßes kommt ebenfalls eine große Bedeutung zu. Beispielsweise werden in Kochrezepten kleine Mengen in Einheiten wie Kaffeelöffel angegeben, ebenso wie kleine Längen in Zoll ausgezeichnet werden. Geldsummen für den Kaufmann haben zwei Dezimalstellen hinter dem Komma (Cent oder früher Pfennig), nicht so die Umrechnungskurse zwischen Währungen. Dort darf ein auf zwei Stellen gerundeter Betrag überhaupt nicht verwendet werden. Bei der Wahl der Maßeinheit für die Leuchtdichte wurde die Größe Stilb (bzw. davon abgeleitet Apostilb) gewählt, damit die Angabe für die Leuchtstofflampen einstellig erfolgen konnte.

Je mehr Menschen mit einer Größe umgehen können, desto weniger verständlich darf sie sein. So wird heute der Luftdruck in Hektopascal (hPa) angegeben. Das sind 100 N/m2 bzw. 100 kg/m•s2. In wissenschaftlicher Notation gibt man gar alle Größen mit einer Dezimalstelle vor dem Komma multipliziert mit einer Zehnerpotenz an. So ist die Sonne 1,496•109 Meter von der Erde entfernt. Eigentlich gibt man „kleinere“ Entfernungen wie diese in Kilometern an, wobei sich die Zahlenangabe relativ wenig verändert, 1,496•106 km.

Der normale Mensch kann mit solchen Angaben herzlich wenig anfangen. Wenn er sein Fahrrad aufpumpt, wird er nie 5000 hPa Druck erzielen wollen. So herrschte früher eine echte verwirrende Vielfalt an Maßeinheiten. Beispielsweise sollen allein im Großherzogtum Baden 112 Ellenmaße, 65 Holzmaße und 80 Pfundgewichte und dergleichen mehr gebräuchlich gewesen sein.7Geschichte der Maße und Gewichte @ In dem britischen Reich sah es sogar schlimmer aus, weil in verschiedenen Teilen der Insel Großbritannien allein mehrere Maße mit dem gleichen Namen, z.B. Meile, existierten. Wenn man dazu die amerikanischen Ableger der Maßeinheiten mit ähnlichen englischen Namen berücksichtigt, gewinnt man eine etwaige Ahnung davon, wie man einen internationalen Handel hätte treiben müssen.

Der bunten Vielfalt der Maße wollte die Französische Revolution ein radikales Ende bereiten, was teilweise auch gelang. Das 10 Monate-Jahr, der 10-Dezimal-Stunden-Tag wurden aber ebenso wenig verstanden wie die Dezimalminute. Das Sexagesimalsystem der Sumerer hat sich bis heute als standhaft erwiesen. Dennoch gelang den Revolutionären aus Frankreich mit der Einführung des ersten metrischen Einheitensystems im Jahre 1793 eine wahre Revolution weltweiten Ausmaßes. Dessen Nachfolger, das Internationale Einheitensystem (SI), wurde weltweit verbindlich eingeführt. Fast weltweit… Nur drei Länder, die USA, deren afrikanischer Ableger Liberia8Liberia ist eine Gründung der USA mit zurück geführten ehemaligen afrikanischen Sklaven. und Myanmar, konnten sich nicht dazu entschließen. Der Erfolg lässt sich auch darauf zurück führen, dass die gewählten Maßeinheiten recht anschaulich waren, Meter und Kilogramm, dazu noch die Sekunde, ein Herzschlag lang. Die beiden ersten Maßeinheiten wurden als Urmeter und Urkilogramm Internationalen Büros für Maß und Gewicht (BIPM) in Sèvres bei Paris aufbewahrt.

Das frühe 19. Jahrhundert war u.a. die Geburtsstunde des Begriffes Wissenschaftler. Diese existierten zwar schon immer. Man konnte allerdings nicht so genau unterscheiden, ob man sie als Weisen, Pandits, Schamane oder gar Zauberer bezeichnen wollte. Der Begriff Wissenschaftler wurde im Jahre 1833 zum ersten Mal benutzt.9Mary Bellis, The Most Important Inventions of the 19th Century. @ Abgerufen 22.02.2022

Ebenso bezeichnend für dieses Jahrhundert war die Einführung von Werkzeug-Maschinen, die Werkzeuge bzw. Maschinenteile produzierten. Im 21. Jahrhundert verbindet man mit solchen Einrichtungen künstliche Wesen, die sich selbst reproduzieren, z.B. Software, die neuere Software schreibt. Diese Entwicklung, Maschinen die Maschinen produzieren, markiert einen weiteren Meilenstein der Entwicklungsgeschichte von Zivilisationen.

Die hinsichtlich der Lichtanwendung bedeutsamste Entwicklung zeigte sich in einer massiven Urbanisierung. Diese hatte sich seit Jahrhunderten kaum verändert, weil fast alle Gesellschaften als Agrarstaaten lebten. Nachdem deren Bevölkerungsstruktur über die 10.000 Jahre der Sesshaftigkeit kaum große Schwankungen aufgewiesen hatte, entstand im Zuge der Industrie Revolution nicht nur eine neue soziale Schicht, der Industriearbeiter. Mit ihm wuchs der Anteil der Menschen, deren Lebensraum nicht mehr naturnah war. Den steilsten Anstieg erlebten die Vereinigten Staaten, deren Stadtbevölkerung von ein paar Prozent im Jahre 1800 auf fast 60% im Laufe des Jahrhunderts anstieg. Diese Entwicklung ging einher mit einer starken Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Menschen drängten sich in relativ wenige Industriezentren, deren Hauptenergiequelle nicht mehr die Sonne selbst war, sondern frühere Ernten ihres Lichtes, Kohle und Holz.

Agrargesellschaften lebten und leben von der Ernte des Sonnenlichts, das Pflanzen in mehr oder wenig gut speicherbare Energien umwandeln. Dies fing vermutlich mit dem Weizen an und geht heute mit der Ölpalme weiter. Ihr Produkt, das Palmöl, kann man sowohl als Nahrung als auch als Brennstoff verwenden. Die Industriegesellschaft nutzte mit der Kohle eine vor einigen hundert Millionen Jahren erfolgte Ernte der Sonnenenergie. Das in den Lokomotiven verbrannte Holz stammt aus Zeiten unmittelbar vor der Verwendung, ist aber im Prinzip praktisch dasselbe, gespeicherte Sonnenenergie. Deren Freisetzung indes ging einher mit der Freisetzung diverser Materialien, die die Pflanzen „verarbeitetet“ hatten. Dies reicht bis zu Quecksilber, das heute Kohlekraftwerke über die Landschaft streuen.10Die Quecksilberemissionen von Kohlekraftwerken wurden im Jahr 2009 publik, als der damalige Umweltminister Gabriel die sog. Energiesparlampe als Ersatz für die Glühlampe propagierte. Ihm war vorgehalten worden, dass diese Lampe mit Quecksilber arbeite. Gabriel entgegnete damit, dass die Einsparung der elektrischen Energie ein Kraftwerk überflüssig mache. Damit würde weniger Quecksilber in die Umgebung gelangen. Das Thema wird ausführlich behandelt in Beckers, R.; Heidemeier, J., Hilliges, F. Kohlekraftwerke im Fokus der Quecksilberstrategie, @ abgerufen 8.3.2023. Die Quintessenz der Autoren: „Es ist offenkundig, dass der wesentliche Schlüssel zur Lösung des globalen Quecksilber- Problems in der globalen Minderung der Quecksilberemissionen aus kohlebetriebenen Großfeuerungsanlagen liegt. Während solche Emissionen unsichtbar blieben, verfinsterte die Kohleverbrennung direkt oder die Verarbeitung der Steinkohle zu Koks für den Industriebedarf buchstäblich die neu entstandenen bzw. groß gewordenen Städte.11Bild aus “A Potted History of Cotton Spinning in the North West of England”, 2016, @ abgerufen 9.9.2021 Da die Verbrennung von Kohle fast nur den Bedarf nach Kraft, also nach mechanischer Energie, deckte, war die Industrieproduktion immer noch auf das Licht der Sonne angewiesen. Diese stand aber nicht nur stark vermindert zur Verfügung, sondern, wie schon immer, zeitlich begrenzt.

Daraus versteht sich, warum ein immenser Bedarf nach künstlich erzeugtem Licht bestand. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hieß die Antwort darauf Gasbeleuchtung wie in den zwei Jahrhunderten davor. Diese war aber immer noch ineffizient und mit mehreren unliebsamen Nebeneffekten verbunden, die im Kapitel "Epochen der Kunst der Lichtmacher“ thematisiert werden. Das Streben nach der Energieeffizienz ist keine neue Idee, wie sich mancher denken mag, der heutige Bemühungen zu diesem Thema betrachtet. Die Erhöhung der Lichtausbeute der Beleuchtung empfahl sich bereits damals insbesondere als Antwort auf ihre übermäßige Wärmeentwicklung, die höhere Intensitäten nicht zuließ.

Luft und Wasser zu verdanken war. Diese wurden im Gegenzug mit allerlei unerwünschten Abfallprodukten belastet. Um 1950 gab es in Europa keinen größeren Fluss, der keine Kloake war. Menschen in Städten wie London, oder in ganzen Regionen wie das Ruhrgebiet, sahen nur noch eine blasse Sonne, auch wenn keine einzige Wolke am Himmel war. „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“ war eine Forderung von Willy Brandt aus dem Jahr 1961, als er Bundeskanzler werden wollte.

Unruhe zur Mitte des Jahrhunderts

Die Jahre nach den Napoleonischen Kriegen bis zur Mitte des Jahrhunderts zeichnen sich durch einen relativen Frieden zwischen den Staaten aus. Diesem standen innere Unruhen und gar Revolutionen innerhalb der staatlichen Gebilde gegenüber. Fast genau zur Mitte des 19. Jahrhunderts, im Jahr 1848, veröffentlichten die Philosophen Karl Marx und Friedrich Engels das “Manifest der Kommunistischen Partei“. Ihre Erfahrungen hatten sie während der “Zweiten Industriellen Revolution” erworben, deren Beginn man mit 1830 datiert. Die treibende Kraft dieser Ära war sicherlich die Anwendung der Dampfkraft auf das Transportwesen, deren Entwicklung bezeichnend für die „Erste Industrielle Revolution“ war. Jetzt stand der Eisenbahnbau im Mittelpunkt. Er wurde buchstäblich zum “Motor” des Wirtschaftswachstums und beschleunigte den Transport von Post, Personen und Gütern. Durch die Erfindung des Schiffspropellers, mit dem 1837 das erste Handelsschiff im Liniendienst, die Novelty, ausgerüstet wurde, wurde es möglich, die ineffizienten Schaufelräder Mitte des 19. Jahrhunderts abzulösen. Erst damit hatte die neue Technologie das Potenzial, den Segelantrieb ganz zu verdrängen.12as Ende der Segelschiffe als kommerzielle Frachtsegler kam noch mehr als ein Jahrhundert später 1957 mit dem Untergang der Pamir. Ihre weiteren „Schwestern“, die letzten acht Großsegler aus den Familie der Flying P-Linern, fuhren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Eines der Schiffe, Padua, ist unter dem Namen Kruzenshtern als einziger der für die Reederei F. Laeisz gebauten Flying P-Liner noch heute in Fahrt. Dies sollte allerdings noch lange dauern.

Hingegen gelang es der Eisenbahn sehr schnell, eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Gesellschaften zu spielen. So wuchsen viele Städte um ihren Bahnhof herum, der bald zum Hauptbahnhof ausgewachsen war. Von dort ging es weiter zu kleineren Bahnhöfen. Städte wie Berlin, Paris oder London hatten gar mehrere Hauptbahnhöfe. Die Bahn hat das Reisen industrialisiert und den Transport von Energie (Kohle) in die Siedlungsgebiete ermöglicht. Deren verstärkte Nutzung in Industrie und im Privatbereich wirkte sich recht verheerend für die Umwelt aus. Der Rauch der Kohle enthält von Schwefel bis Ruß viel Konterbande.

Um die Einstellung der Menschen zum Licht zu verstehen, kann man die damaligen Arbeits- und Wohnverhältnisse ansehen und die zunehmende Verdüsterung der urbanen Umwelt, in der Menschen aus ländlichen Gebieten nunmehr lebten. Die Epoche zwischen 1850 bis zum Ende des Langen 19. Jahrhunderts bezeichnet Daniel Freund als Darkening City.13Daniel Freund, American Sunshine, Diseases of Darkness and the Quest for Natural Light, University of Chicago Press 978-0-226-26283-3 (ISBN) Daran fühlte ich mich erinnert, als ich bei einer Reise in Peking an 12 Sonnentagen die Sonne nicht eine Minute sehen konnte. Der Smog breitete sich meilenweit noch vor die riesige Stadt aus, obwohl nur jedes zweite Auto an einem bestimmten Tag fahren durfte. Doch dies war nichts gegen die Lebensumstände in Großstädten des 19. Jahrhunderts wie London oder New York. Dass es den Arbeitern in Berlin nicht viel besser erging, kann man z.B. in der Arbeit von Julian Juckel lesen, der die Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft in Berlin und London vergleicht.14Julian Juckel, Die Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft um 1900. Berlin und London im Vergleich, 2016 @ abgerufen 1.03.2023 In Berlin herrschte arge Wohnraumnot schon zu Ende der Napoleonischen Ära bis zur Reichsgründung. Diese traf nicht alle gleichermaßen. Die Wohnviertel der Reichen lagen zur Luvseite15Luv nennt man in der Schifffahrt die dem Wind zugewandte Seite des Schiffes. Die großen europäischen Städte liegen im Bereich des Atlantischen Wettersystems mit Winden, die hauptsächlich westlich orientiert sind. der großen Städte im Westen, die deswegen häufig Westend oder West End heißen. Hier siedelten sich wohlhabende Bürger an, da die vorherrschend westlichen Winde das entsprechende Viertel der Stadt von den Gerüchen und – mit zunehmender Industrialisierung – auch von Rauch und Abgasen verschonten. In Deutschland sind das Frankfurter Westend und das Offenbacher Westend, beide aus früheren Villenvierteln entstanden. Das Wiesbadener Westend besteht aus Gebäuden des Historismus, das Berliner und das Bremer Westend haben eine gemischte Bebauung. Im Hofer Westend, wo auch das Theater Hof beheimatet ist, entstand die Bebauung in Gründerzeit und Jugendstil.16https://dewiki.de/Suche?q=westend @ Anm.: Die Regel gilt insbesondere dort, wo die westlichen Winde vorherrschen. Die ebenfalls als „Westend“ bekannte Schwanthalerhöhe in München ist ein altes Arbeiterviertel, genauso wie die Arbeiterkolonie Westend in Essen eines war. In München ist die Dominanz der Westwinde weniger ausgeprägt, und Essen sitzt im Ruhrgebiet mit diversen Städten wie Oberhausen, Duisburg oder Mülheim an der Ruhr im Westen. In Mannheims Westen sitzt ein Industriegebiet Ludwigshafen. Daher gilt die Regel auch dort nicht.

Karl Marx und Friedrich Engels, zwei deutsche Denker, die beide in London starben, nachdem sie den wesentlichen Teil ihres Wirkens in England verbracht hatten, kannten die Verhältnisse in Europa bestens. Marx hatte seine Kindheit in Trier verbracht und dann in Bonn studiert. Seine späteren Jahre in Berlin, Paris und London müssen ihm als Kontrastprogramm vorgekommen sein. Der Grundstein für ihr Lebenswerk haben die beiden in Manchester gelegt, einem Symbol für soziale Ungleichheit und wilden Kapitalismus. Engels kritisierte die langen Arbeitszeiten von 12 bis 14 Stunden, und das an sechs Tagen die Woche. Das war aber bei weitem nicht alles. Von der Uhrenindustrie in Deutschland wird berichtet, dass dort von montags bis samstags im Sommer um 4 Uhr, im Winter um 5 Uhr morgens begonnen wurde - und auch an den Sonntagen mitunter weiter gearbeitet. Schluss war zwischen 8 und 10 Uhr abends. So kamen die Arbeiter dort um 1850 auf eine wöchentliche Arbeitszeit von 90 Stunden.17Die 90-Stunden-Woche - als wir begannen, wie Maschinen zu schuften, @ abgerufen 22.02.2022 Die Mitte des 19. Jahrhunderts wird als die Zeit angegeben, in der die Arbeitszeiten der Menschen am stärksten von den Produktionsmitteln abhingen. Diese waren teuer und menschliche Arbeitskraft billig.

Was bedeutet es, wenn man im deutschen Winter an sechs Tagen der Woche um 5 Uhr morgens mit der Arbeit beginnt und um 20 bis 22 Uhr aufhört? Ein Leben fast vollständig unter künstlichem Licht. Manchem Arbeitnehmer ging es bereits damals besser. So erließ die Maschinenfabrik Eßlingen schon 1846 eine Fabrikordnung 2, in der es heißt: »Die Arbeitszeit ist für das ganze Jahr folgende: von sechs Uhr Morgens bis zwölf Uhr Mittags, von ein Uhr Mittags bis sieben Uhr Abends...« Das ergab eine Arbeitszeit von zwölf Stunden täglich - mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage und des Montags nach Zahltagen, an dem nur sechs Stunden gearbeitet werden musste, so dass man von einer wöchentlichen Arbeitszeit von etwa 70 Stunden ausgehen kann.18Hermann Bausinger, Arbeit und Freizeit, Bausinger_Hermann_Funkkolleg_Geschichte_Bd.pdf, @ abgerufen 1.03.2022 Die Anwesenheitszeit betrug somit 13 Stunden täglich. Dies hört sich menschlicher an. Die Arbeitszeit entsprach aber der durchschnittlichen Länge des hellen Tages übers Jahr.19Üblicherweise spricht man von einer hellen Tageshälfte, was einer Zeitspanne von 12 Stunden entspricht. Der helle Tag fängt aber nicht bei Sonnenaufgang an und hört bei Sonnenuntergang auf. Daher ist der helle Tag im Jahresschnitt immer länger als 12 Stunden. Die Dämmerung dauert unterschiedlich lange, je nachdem, wie tief die Sonne unter den Horizont sinkt. In Frühjahr und Herbst geht es am schnellsten: Etwa 31 Minuten nach Sonnenuntergang endet in Bayern die bürgerliche Dämmerung, weitere 37 Minuten später geht auch die nautische Dämmerung in die astronomische über, weitere 38 Minuten später ist auch diese zu Ende - eine Stunde und 46 Minuten nach Sonnenuntergang ist es finstere Nacht. Im Winter dauert die bürgerliche Phase sechs Minuten länger, die nautische um ein bis zwei Minuten. Die astronomische Dämmerung endet somit erst eine Stunde und 55 Minuten nach Sonnenuntergang - insgesamt rund zehn Minuten später. Im Sommer ist der Unterschied am größten: Jetzt dauert die bürgerliche Dämmerung 41 Minuten, die nautische Dämmerung 59 Minuten und die astronomische ganze eindreiviertel Stunden - die gesamte Dämmerung dauert also fast dreieinhalb Stunden, doppelt so lang wie im Frühjahr oder Herbst. Und sie wurde meist während der Tagesstunden absolviert, weil das Licht der Sonne ein Arbeitsmittel war.

Außerhalb der Arbeitszeiten, die einen erheblichen Teil der Woche einnahmen (90 h wöchentlich = 54% der Woche, 70 h = 42%), waren die Menschen nicht etwa „frei“, sie sollten nach dem Willen mancher Bürger auch in ihrer Freizeit überwacht werden. So wird von der Stadt Heilbronn berichtet: „Es zeigt zwar die große Menge fremder Arbeiter starken Hang zu einer ungebundenen Lebensweise, denn viele ledige Leute ziehen es vor, in Fabriken zu arbeiten, wo sie zwar in der Arbeitszeit sehr fleißig sein müssen, doch aber in Gesellschaft arbeiten, und nach dem Feierabend sich ganz selbst überlassen sind, während die Dienstboten Tag und Nacht unter der Aufsicht ihrer Herrschaft bleiben.“20Aus dem Stadtarchiv Heilbronn @ abgerufen 2.03.2022 Die liebsten Beschäftigungen der Industriearbeiter waren in den Augen der Bürger bestenfalls bedauerlich: „Es ist daher allerdings zu bedauern, daß manche von diesen vielen Proletariern unzüchtig leben, oder was sie verdienen im Spiel und an Wirtstischen vergeuden.“ Das sind die Worte eines Heinrich Titot21Heinrich Titot war von 1835 bis März 1848 Schultheiß der Stadt Heilbronn. Anfang März 1848 kam es im Zuge der Märzrevolution auch zu Unruhen in Heilbronn, wo sich der Unmut des Volkes auch gegen Titot als Krebsritter (missliebiger Beamter, Rückschrittler) richtete. Titot hat mehrere Schriften zur Stadtgeschichte vorgelegt. Bild @, Schultheiß der Stadt Heilbronn. Die Amtsbezeichnung bedeutet in Althochdeutsch „Leistung Befehlender“. Er hatte im Auftrag seines Herrn (Landesherrn, Stadtherrn, Grundherrn) die Mitglieder einer Gemeinde zur Leistung ihrer Schuldigkeit anzuhalten, also Abgaben einzuziehen oder für das Beachten anderer Verpflichtungen Sorge zu tragen. Aus den Worten Titots kann man bestimmt keine Empathie für die neue soziale Schicht heraushören.

Wie sah die Umgebung der Menschen aus, in der sie ihren hellen Tag verbrachten? Wenn man die Wertschätzung der Arbeitskraft i.S. eines Heinrich Titot zugrunde legt, kann die Umgebung der Arbeit nicht allzu freundlich ausgesehen haben. Die Gesundheitsregeln für die Arbeiter der Bläßschen Bleiweißfabrik aus Heilbronn schrieben beispielsweise vor, „überflüssige Gespräche zu vermeiden, um einer Vergiftung vorzubeugen“. Es hieß wörtlich „ und überhaupt den Mund zu halten.“22Gesundheitsregeln für die Arbeiter der Bläßschen Bleiweißfabrik; um 1880 (Stadtarchiv Heilbronn) @ Eine sehr originelle Vorschrift des Arbeitsschutzes. Wer trotzdem wegen einer vermutlichen Bleivergiftung das Spital aufsuchen musste, sollte „vorerst nicht zu Bleiweiß zurück kommen, sondern sich einige Zeit eine andere Beschäftigung suchen.“ Unternehmer, die solche Regeln an die Wand der Arbeitsstätte hingen, waren nicht etwa Vertreter des Manchester Kapitalismus, sondern deutsche Unternehmer, die für die Gesundheit ihrer Arbeitskräfte verantwortlich waren. Ein solcher Schutz bestand zwar seit langem durch die patriarchalischen Beziehungen zu den Arbeitnehmern. Dieser war seinerzeit sogar durch die höchsten Repräsentanten der Politik noch verstärkt worden, nämlich durch den Kaiser persönlich und seinen Kanzler Bismarck.

Unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Reichs in 1871 hatte sich Kaiser Wilhelm I in die Sozialgesetzgebung eingeschaltet. In der sogenannten "Kaiserlichen Botschaft" vor dem Reichstag verlangte er die Einführung einer Sozialversicherung am 17. September 1881. Die Motivation von Kaiser Wilhelm (eigentlich seines Kanzlers Otto von Bismarck) war zwar nicht etwa einer Stärkung von Menschenrechten u.ä. geschuldet, aber das Ergebnis seiner Initiative sollte hervorragend dazu dienen: „Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen ist...“ 23Otto von Bismarck – Die Sozialgesetze @ abgerufen 03.03.2023 Wie der Kaiser war auch Reichskanzler Otto von Bismarck davon überzeugt, dass eine gut organisierte Unfallversicherung die einzige Lösung für das soziale Problem der Arbeiter sei. Allerdings trieb ihn auch die Sorge vor einer neuen Revolution, die durch unzufriedene Arbeiter entfacht werden konnte.

Unabhängig vom Verschulden oder Nichtverschulden sollte der Betroffene bei einem Unfall eine Entschädigung erhalten. Nach Bismarcks Willen sollte diese Art der Versicherung durch das Reich und durch Beiträge der Unternehmer finanziert werden. Das so eingeführte System lebt lange nach dem Ableben des Kaisers und seines Reiches, gefolgt von der Weimarer Republik, dem sog. III. Reich, der DDR und Bundesrepublik Deutschland, in der Form der DGUV fort. Deren ausgeschriebener Name, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, erinnert noch an die einstigen Ziele des deutschen Kaisers aus dem 19. Jahrhundert, der die Lösung der sozialen Probleme darin gesehen hatte, dass „in der Form ‚kooperativer Genossenschaften‘ unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung zusammengefasst werden“. Die „kooperativen Genossenschaften“ hießen dann Berufsgenossenschaften, und der staatliche Schutz hieß „autonomes Recht“ der Berufsgenossenschaften, die ihre Vorschriften selber erstellten und nur noch vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung absegnen lassen mussten. Das Ganze nannte sich duales System und konnte sich auch in die Ära des EU-Sozialrechts retten, das nur den Staat als zuständig für diesbezügliche Aufgaben kennt. Ob man glaubt oder nicht, der deutsche Arbeitsschutz ist auch heute noch weitgehend ein Unfallschutz, und nicht nur die Berufsgenossenschaften (= gesetzliche Unfallversicherung) waren danach ausgerichtet. Sogar das Organ des Gesetzes, die für den Arbeitsschutz zuständige Anstalt, BAuA, hieß einst BAU wie Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung. Sie fand ihren jetzigen Namen, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin erst im Jahre 1996. Und beruflich bedingte Erkrankungen wurden behandelt wie ein Unfall, der sich über Jahre erstreckt. Die Entschädigung oder sonstige Ansprüche des Geschädigten bedingen einen Nachweis, der an viele Bedingungen geknüpft ist.24S. Abhandlung über die Berufskrankheit. Eine Krankheit gilt juristisch als Berufskrankheit, wenn sie ihre Ursachen in der beruflichen Tätigkeit des Erkrankten liegen. Daher systematisiert man Berufskrankheiten meist nicht nach Auswirkungen, sondern nach Ursachen. @ abgerufen 05.03.2023

Auf den ersten Blick scheint der Vorgang der Einführung der Sozialgesetzgebung nichts mit Licht oder mit der Beleuchtung von Arbeitsumgebungen zu tun. Das zu glauben, wäre allerdings ein schwerer Irrtum. Licht und Beleuchtung haben bis heute einen engen Bezug zum Unfallgeschehen, der aber weitgehend im Unklaren geblieben ist. Ein wesentlicher Teil der heutigen Regelungen des Staates bezüglich des Arbeitsschutzes weist einen Bezug zu Beleuchtung auf (s. Arbeitsstättenverordnung25Die Arbeitsstätttenverordnung @ abgerufen 03.03.2023 schreibt in § 3a Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten vor „Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass Arbeitsstätten so eingerichtet und betrieben werden, dass Gefährdungen für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten möglichst vermieden und verbleibende Gefährdungen möglichst gering gehalten werden.“ Dazu finden sich im Anhang der ArbStättV umfangreiche Vorschriften für die Beleuchtung und Sichtverbindung vor, die in einer eigenen ASR A3.4 konkretisiert werden.). Aber anders als viele andere Staaten versteht der deutsche Staat als Beleuchtung nicht etwa die Installation von Lampen und Leuchten. Die zuständige Vorschrift heißt „Beleuchtung und Sichtverbindung“ und bedeutet, im Lichte der deutschen Vorschriften, dass jeder Arbeitsraum eine Sichtverbindung nach außen aufweisen muss. Ausnahmen sind in der Vorschrift angeführt.26Die Ausnahmen zu dieser Vorschrift werden z.T. in der ArbStättV selbst angegeben, z.T. ergeben sie sich mittelbar aus übergeordneten Vorschriften bzw. Rechtsprinzipien. Niemand darf dazu gezwungen werden, etwas zu realisieren, was er nicht kann. (ultra posse nemo obligatur = Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet.) Allerdings kann dies auch dazu führen, dass bestimmte Arbeitsvorgänge als unzulässig erachtet werden. Im Mindestfall ist die Unerfüllbarkeit einer Vorschrift damit verbunden, dass der Arbeitgeber Ersatzmaßnahmen realisieren muss. So kann von einem Kinobetreiber nicht verlangt werden, dass der Arbeitsraum eines Filmvorführers Tageslicht haben muss. Aber der Arbeitsschutz kann von ihm verlangen, dass z.B. Pausenräume mit Tageslicht vorgesehen werden. Hierdurch wurde der Bau von Arbeitsstätten direkt beeinflusst. Zur Planung von Arbeitsstätten, die in der Regel Bauten sind, existieren aber noch striktere Vorschriften in den Bauordnungen der Länder. Und deren Geschichte lässt sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Das Geschehen in Deutschland beeinflusste auch die Vorschriften in den USA.27S. hierzu zoning law, z.B. hier @ abgerufen 07.03.2023. New York hat als erste amerikanische Stadt eine Resolution „New York City Building Zoning Resolution“ von 1916 verabschiedet, um die Höhen von Gebäuden zu begrenzen. Zoning bedeutete das Ausweisen bestimmter Bereiche in Städten für unterschiedliche Benutzung, z.B. als Gewerbegebiet oder Wohngebiet. Die erste Zoning Resolution, mit Vorbildcharakter für die gesamten USA, war die Zoning Resolution für New York City aus dem Jahr 1916. Ausgelöst durch das unregulierte wie ungestüme Wachstum der Stadt, in der gesundheitsschädliche Industrien neben Wohngebieten entstanden waren, und besonders durch das 1915 eingeweihte 38-stöckige Equitable Building, das keinerlei Rücksicht auf die benachbarten Grundstücke nahm und einen bis zu drei Hektar großen Schatten warf, sah sich die Stadtverwaltung gezwungen, die Flächennutzung zu regulieren. Zoning entspricht in etwa einem Flächennutzungsplan, der die langfristig geplante Nutzung (Wohnen, Gewerbe, Verkehr, Flächen für die Landwirtschaft und den Naturschutz, etc.) der Gemeindeflächen darstellt. Die Aussagen dieses Plans beziehen sich auf die beabsichtigte Entwicklung des Gemeindegebiets und kennzeichnen die städtebaulichen Zielvorstellungen der Gemeinde. Zoning ist Teil des deutschen Baugesetzbuchs, das eines der komplexesten juristischen Werke in Deutschland ist.28Zum Baugesetzbuch hier @ abgerufen 04.03.2023 und hier @ buzer.de kommentiert das Bundesrecht tagaktuell konsolidiert.

Die Landesbauordnungen schreiben u.a. bestimmte Größen für Fenster vor, die man direkt der Beleuchtung zuordnen kann. Aber auch die Abstandsflächen zwischen den Gebäuden werden geregelt. Beide zusammen haben einen engen Bezug zur Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts und zur Entwicklung der Städte, wie wir diese kennen. Nicht zuletzt sollte die Entwicklung der „elektrischen Sonne“ des 20. Jahrhunderts sogar eine direkte Folge von fehlenden Vorschriften für Fenster und Abstandsflächen im 19. Jahrhundert sein. Denn die in den Städten neu entstehenden Mietskasernen wurden zur maximalen Ausnutzung der Grundstücke dicht bebaut. Fenster waren keine Verständlichkeit. Dort wo sie waren, konnten sie zuweilen ihre Funktion nicht erfüllen, weil das nächste Haus direkt daneben stand.

Die Funktion der Fenster besteht nicht allein darin, das Tageslicht hinein zu lassen. Sie dienen auch als Fluchtweg. Als Hauptfunktion dienen sie aber der Belichtung und der Belüftung. So heißt es z.B. in der Landesbauordnung Baden-Württemberg „Aufenthaltsräume müssen ausreichend belüftet werden können; sie müssen unmittelbar ins Freie führende Fenster von solcher Zahl, Lage, Größe und Beschaffenheit haben, dass die Räume ausreichend mit Tageslicht beleuchtet werden können (notwendige Fenster).29Landesbauordnung Baden-Württemberg, § 34 Aufenthaltsräume, Vom 5. März 2010 (GBl. Nr. 7, S. 358), in Kraft getreten am 8. Januar 2022 Just daran mangelte es Mitte des 19. Jahrhunderts und später bei den Mietskasernen, die sich in den Städten breit machten. Es fehlte an Licht und Luft. Zudem konnte bei Neubauten nicht einmal die Feuchtigkeit des Mörtels abgeführt werden. Menschen wurden zur Bewohnbarmachung von Wohnungen eingesetzt. Für diese fand die deutsche Satirezeitschrift Kladderadatsch den Begriff Trockenmieter im Jahr 1863.30Der Kladderadatsch definierte den Begriff wie folgt: „,Trockenwohner‘ nennt man in Berlin die Proletarier, welchen die Häuserspekulanten die Wohnungen in ihren neu erbauten, eben fertig gewordenen Häusern ohne Forderung eines Mietzinses überlassen, bis jede Feuchtigkeit aus dem Neubau verschwunden ist und das Haus für zahlende Mieter bewohnbar ist. @ Abgerufen am 23.03.2023 Das waren Familien, die mietzinsfrei in Neubauten einzogen. Ihre Atemluft wurde benötigt, um den Kalkmörtel durch das Kohlendioxid binden zu lassen. Hierbei setzte der noch feuchte Mörtel noch einmal Wasser frei. Nach drei Monaten zog die Familie dann in eine andere Wohnung um. „Dafor blechen wa keene Miete, und die Schwindsucht jibts jratis zu!“, lässt Hans Fallada in „Ein Mann will nach oben“ einen solchen Trockenmieter sagen. Friedrich Engels sprach noch etwas drastischer: „Hier in Berlin hat man das ‚Berliner Zimmer‘ erfunden, mit kaum einer Spur von Fenster, und darin verbringen die Berliner den größten Teil ihrer Zeit.“ In einem Brief beschrieb er das Berliner Zimmer31Das Berliner Zimmer ist eine Besonderheit des Berliner Wohnungsbaus ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Verbot der Hinterhofbebauung im Jahr 1925. Es war ein Wohnraum, der das Vorderhaus mit dem Seitenflügel eines Gebäudes bzw. den Seitenflügel mit dem Hinterhaus verbindet. Es ist ein großer Raum, der trotz seiner Größe nur über ein einziges Eckfenster verfügt, das zum Hof hinausgeht und daher, vor allem in den unteren Stockwerken, wenig Licht spendet. Entsprechend schlecht ist auch die Belüftung. als „diese in der ganzen anderen übrigen Welt unmögliche Herberge der Finsternis, der stickigen Luft, & des sich darin behaglich fühlenden Berliner Philistertums. Dank schönstens!“

Krankheiten der Finsternis - Geschichten aus New York und Chicago

Die Freude der Menschen an neuem Licht späterer Jahrzehnte lässt sich angesichts der sozialen Verhältnisse Mitte des 19. Jahrhunderts gut verstehen. Um die Menschen der damaligen Zeit begreifen zu können, muss man etwas mehr Fantasie entwickeln. Doch ein Ereignis, das ein Jahrhundert später stattfand, kann dazu Hilfe leisten. Mitte der 1970er Jahre entstand in den USA der Begriff „sick building syndrome“, ein Phänomen, das sich etwa als „krankmachende Gebäude“ übersetzen lässt. Die Umstände waren etwa vergleichbar mit denen ein Jahrhundert zuvor: schlechte Luft kombiniert mit schlechtem Licht für Menschen, die zuvor in ländlichen Gebieten gelebt hatten. Diese waren US-Amerikanische Rekruten, deren schulische Umgebung infolge der Ölkrise schlecht belüftet wurden. Das war eher untertrieben, die Klimaanlagen wurden häufig sogar ohne Frischluftzufuhr betrieben. Das Phänomen ging unmittelbar in die Literatur ein, wurde sogar von der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) definiert.32Sick Building Syndrome ILO Encyclopaedia @ abgerufen 04.03.2022 Auch das Deutsche Umweltbundesamt beschäftigt sich ein halbes Jahrhundert danach immer noch mit dem Phänomen.33Sick Building Syndrome Umweltbundesamt @ abgerufen 04.03.2022 Nicht zuletzt die Weltgesundheitsorganisation hat sich umfangreich damit auseinander gesetzt.34Sick building syndrome von : World Health Organization Regional Office for Europe @ abgerufen 04.03.2022 Die Situation zur Mitte des 19. Jahrhunderts war indes schlimmer, denn die krankmachenden Einflüsse beschränkten sich nicht auf die Arbeitszeit. Vielmehr war man denen rund um die Uhr ausgesetzt. Nur die Ausprägung der einzelnen Faktoren war unterschiedlich.

Die erste Untersuchung der Wohnverhältnisse in New York durch John Griscom, einem Pionier der Public Health Bewegung der USA, in dem Jahr 1845 brachte Erschreckendes ans Licht. Während man bereits vorher wusste bzw. glaubte, dass schlechtes Wohnen mit Korruption, Kriminalität, kranken Seelen u.ä. verbunden war, sah Griscom in ein tiefes Elend. Die Bewohner litten in dunklen Löchern ohne Fenster, in denen Sonnenlicht und frische Luft Fremdwörter waren. Noch schlimmer erging es den Kellerbewohnern, die in fast völliger Dunkelheit lebten. Griscom beschrieb, wie man in der Dunkelheit suchend in die Dunkelheit abstieg, wobei man sich eher auf sein Gehör verlassen musste. Er sah die erste Aufgabe einer Stadtverwaltung oder gar eines Staates darin, gesunde Verhältnisse für alle zu schaffen und zu erhalten. Dazu bemühte er sogar the Declaration of Independence und sah das höchste Gut, das Leben des Menschen, in Gefahr.35John H. Griscom, The Sanitary Condition of the Laboring Population of New York with suggestions and improvement, download von @ abgerufen 04.03.2022 Er zählte akribisch die Zahl der Kellerwohnungen und Hinterhofbehausungen auf.

Als das erste Gesetz zu Mietskasernen in 1867 erlassen wurde, zählte die City 15.000 Mietskasernen, die ohne jegliche Regelung geplant und erbaut worden waren.36Robert W. de Forest, A Brief History of the Housing Movement in America, The Annals of the American Academy of Political and Social Science , Jan., 1914, Vol. 51, Housing and Town Planning (Jan., 1914), s. 8-16 Ein gewisser Alfred T. White baute zehn Jahre später „Modellhäuser“ (Originalname: Home Buildings) für die arbeitende Bevölkerung von Brooklyn.

Griscoms Kreuzzug änderte aber zunächst wenig an den realen Verhältnissen. Erst in 1901 wurde ein Gesetz erlassen, um die Wohnverhältnisse von New York zu verbessern. Dessen Ziele waren weit gesteckt und sollten den Feuergefahren begegnen, Prostitution und Kriminalität bekämpfen und die Slums bewohnbar machen. Der größte Teil des Gesetzes war aber schlecht belüfteten Wohnräumen gewidmet, die in Mietkasernen verbaut, sich gegenseitig das Licht nahmen. Das Gesetz von 1901 des Staates New York wurde später als Epoche machend bezeichnet.

In den USA bildete sich eine Bewegung von „Progressives“, also fortschrittlichen Sozialreformern, deren Hauptziele die Lösung von enormen Problemen bildete, die Folgen der Industrialisierung, Urbanisierung, Einwanderung und politischer Korruption waren. Die Epoche zwischen 1890 und dem Beitritt der USA in den Ersten Weltkrieg wird die „Progressive Era“ bezeichnet. Licht ins Dunkel der Städte zu bringen, war damals ein prominentes Ziel der Sozialreformer. Das ist umso mehr erstaunlich, weil sich der Progressivismus noch viele andere Ziele wie die Realisierung der Frauenrechte, Zügelung des ungeregelten Kapitalismus u.ä. gesetzt hatte, deren Bedeutung im politischen Leben bis heute nicht abgenommen hat. Für die Progressiven gehörten Ziele wie die Umgestaltung der Mietskasernen, die Umorganisation der Städte oder das Reformieren der Schulen immer zusammen.

Der Rückzug der Sonne aus den Industriemetropolen und die Verdüsterung der Städte durch die Luftverschmutzung versuchte man durch klare Worte zu Licht und Sonne aufzuhalten. „Licht ist gut – Dunkelheit schlecht“ ließ sich als Schlagwort gut verkaufen, da Menschen bekanntlich Lichtmenschen sind, die Linnaeus homo diurnus genannt hatte. Aber es bedurfte nicht eines Wissenschaftlers, die Finsternis zu verdammen. Schon in der Antike war die Unterwelt ein Hort der Finsternis, deren Gott, Hades, das Reich der Toten beherrscht. Spätestens 1920 beherbergte die Unterwelt, vom Englischen Underworld, asoziale Schichten, Kriminelle und Verbrecher. Wie schön hingegen die Sonne Apolls! Er war Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung sowie der Weissagung und der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs. Als Phoibos Apollon („der Leuchtende“, latinisiert: Phoebus) wurde er auch mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt. Die Sonne war der neue progressive Star am Himmel – noch hinter Rauchschwaden versteckt und im Schatten riesiger Gebäude kaum sichtbar. Ausgerechnet der Name Phoebus sollte bald ein Kartell bezeichnen, das die Geschichte der Lichterzeugung geprägt hat wie kaum eine andere Wirtschaftsvereinigung. Ob die ahnen konnten, dass dieses Kartell dereinst der Beginn einer künstlich herbeigeführten Vergänglichkeit von Industrieprodukten werden sollte, der geplanten Obsoleszenz?

Noch handelte es sich um die Sonne, wie sie die Natur hervorgebracht hatte. Auf die Idee, diese „nachzubauen“ kamen spätere Generationen. Allerdings musste man darauf nicht allzu lange warten. Der Grundstein für die elektrische Sonne, das Edison Patent für die Glühlampe, war bereits 1880 erteilt worden. Der große Erfinder soll bereits am 8. September 1878 einem Mitarbeiter in seinem Forschungslabor in Menlo-Park bei New York telegrafiert haben: „Ich bin beim elektrischen Licht auf eine Goldader gestoßen.37Tobias Birzer, Ein Patent, das die Welt veränderte, @, abgerufen 05.03.2022 Wie diese Goldader kommerzialisiert wurde, habe ich in den Kapiteln zum Stromkrieg (War of Currents) und zum Phoebus Kartell dargestellt. (s. Das Phoebus-Kartell – Gerücht - Legende – Realität) Den Progressiven war nicht unbedingt bewusst geworden, dass sie den Boden bereiteten, auf dem eine wahre Revolutionswelle stattfinden sollte. Hatte das Patent von Edison eine Revolution in der Lichterzeugung eingeleitet, folgten dieser mächtigere Revolutionen, die von dem elektrischen Licht ausgelöst, begleitet oder überhaupt ermöglicht wurden. Am Ende sollten die Menschen die Befreiung von dem Problem der Dunkelheit nicht mehr mit den Methoden der Progressives suchen und soziale Lösungen erzielen wollen, sondern technische Abhilfen. Edisons Lampe bildete dabei nur einen Teil des Konzepts dar. Um zur elektrischen Sonne zu werden, fehlte ihr an einer Strahlung, die man damals nur im Sonnenlicht finden konnte. Doch bevor man dazu kommen konnte, entwickelte man Ideen, Konzepte und gar Gesetze, um die Städte bewohnbar zu machen.

Wellen der Reformen der städtischen Lebensverhältnisse folgten in den Jahren 1869, 1879, 1884 und 1895. Die Gesetze versprachen immer eine heile Zukunft mit hellen Städten, doch auch die Sonne des neuen Jahrhunderts in Manhattan konnte nicht in die neuen Mietskasernen dringen, die ihre Grundstücke voll ausnutzten. Da konnten Fenster auch nicht viel ausrichten, wenn sich die Gebäude gegenseitig das Licht nahmen. Dabei waren die neuen Gebäude nach dem Gesetz von 187938Second Tenement House Act (1879) ("Old Law") @ gebaut worden. Das Gesetz hatte zwar vorgeschrieben, dass jeder bewohnbare Raum ein Fenster ins Freie haben müsse. Dem hatten die Architekten mit einem Luftschacht entsprochen. Der so entstandene Grundriss entsprach etwa einer Hantel oder einem Hundeknochen (s. oben). So wurde zwischen zwei benachbarten Gebäuden ein kleiner Schacht frei gelassen. Der Fortschritt fiel daher sehr klein aus, zumal die Schachten nur etwas Luft hineinließen, aber für Licht zu eng waren. Zudem füllten sie sich bald mit Müll. Solche Gebäude findet man noch heute in Manhattan Lower East Side. Um 1900 zeichnete sich dieses Gebiet durch die höchste Bevölkerungsdichte der Welt aus. In einem Gebäude dieser Art lebten 2,781 Menschen auf einer Fläche von zwei Hektar. Rund 30% dessen Räume waren dunkel, weitere 40% hatten Fenster zu engen Lichtschächten.

Viel schlimmer sah es in den Mietskasernen aus, die auf einem Grundstück hinter einem Gebäude gebaut wurden. Etwa 2000 Häuser von Manhattan gehörten in diese Kategorie. Lawrence Veiller, ein Reformer, stellte fest, dass in diesen Hinterhof-Mietskasernen 41% der Treppenhäuser und Räume schlicht schwarz waren, 38% sehr dunkel und die restlichen 21% dunkel.39Tenement house reform in New York, 1834-1900 / (New York : Evening Post Job Printing House, 1900 Wie ein Buch zur Planung sonniger Städte zeigt40Herbert S. Swan, George W. Tuttle, Planning Sunlight Cities, Harvard University, 1919, warf ein heute noch berühmtes Hochhaus, das Woolworth Building, gen Weihnachten (Wintersonnenwende) einen über 500 m langen Schatten. Und das Gebäude namens Equitable (= gerecht, angemessen, fair) überschattete 8 Hektar bebautes städtisches Gebiet.41Equitable Building (New York) @ abgerufen 09.03.2022 Die Dunkelheit war also eine physikalische Realität, kein Wunder.

Equitable wurde geplant, als schon das Zoning Law von 1916 in Vorbereitung war. Dieses Gebäude gibt ein gutes Beispiel dafür ab, wie ein ungezügeltes Gewinnstreben mit kollektiven Interessen der Gesellschaft kollidieren kann. Die Progressives, Amerikaner wie auch die Planer und Erbauer des Gebäudes, vertraten soziale Interessen i.S. von Public Health. Die Gegenseite lässt sich hingegen nicht so klar abgrenzen. Denn die US-amerikanische Gesellschaft bildet die individualistischste auf der Welt, und den Einfluss des Staates auf das eigene Tun so weit wie möglich zu beschränken, gehört zum guten Ton. Das heißt, dass man die Notleidenden einer Situation nur Tage später auf Seiten der Verursacher finden kann. Wie so etwas vor sich geht, hatte ich anderswo studieren dürfen. Heute beschweren sich praktisch alle Menschen, die Istanbul vor 30 oder 40 Jahren bewohnt hatten, dass die Stadt eine Art „Steinzeit“ erlebt. Betonville wäre vielleicht ein besserer Ausdruck. Überall schießen neue Gebäude hoch, Grünflächen verschwinden, die Skyline, einst von der Hagia Sophia und Moscheen auf sieben Hügeln dominiert, verschwindet langsam hinter Hochhäusern, die zuweilen Equitable in den Schatten stellen. Der Mechanismus läuft aber kaum anders als damals in New York. Bewohner stellen ihre alten Häuser den Bauspekulanten zur Verfügung und werden dadurch selber zu solchen, weil die Bauherren die Grundstücke nicht kaufen, sondern mit den alten Besitzern teilen. So sehen Teile einer der ältesten Städte der Welt aus wie New York in den Bereichen, wo es einst ungezügelt von Bauvorschriften oder Stadtentwicklungsplänen wuchern konnte.

Dass Hochhäuser nicht unbedingt mit den Interessen der Menschen, die darin oder drumherum wohnen oder arbeiten, kollidieren müssen, kann man an dem Haupthaus der Firma sehen, das neben Equity steht, HSBC Bank Building. Deren Haupthaus wurde in Hong Kong von Sir Norman Foster erbaut und musste den Gesetzen des Feng Shui gehorchen.42Feng Shui bedeutet Wind und Wasser, aber auch Licht der Sonne. Es ist daoistische Harmonielehre aus China. Eines der traditionellen Anwendungsgebiete des Feng Shui in China ist die Planung von Grabstätten (Ahnenkult) als Wohnalternative für die Toten. Diese leben nach dem Glauben in einem anderen Kontext und sind daher nicht tot. Daneben hat Feng Shui auch die chinesische Gartenkunst maßgeblich geprägt. Die Prinzipien des Feng Shui können auch bei Zimmereinrichtungen, Hausarchitektur, Landschaftsgestaltung und städtebaulicher Planung berücksichtigt werden. Die Rolle des Feng Shui bei der Gestaltung des HSBC-Building wird hier ausführlich beschrieben. Das Gebäude von Sir Norman Foster ist vermutlich das einzige Hochhaus der Welt, das man wegtragen kann. Dass das Grundstück, auf dem es steht, zwar der Bank gehört, aber als öffentlicher Raum gilt, trug wesentlich zur Akzeptanz bei.  Dazu gehören zwei besondere Merkmale des Gebäudes. Die Parterre ist eine offene Fläche und erlaubt einer Gruppe von etwa 10.000 Philippina, sich am Sonntag dort zu treffen, auch wenn ein tropischer Regen fällt. Das Gebäude muss in einem bestimmten Bezug zu Wasser und Sonne stehen. Deswegen musste es eine bestimmte Ausrichtung haben. Im Innern sind alle 52 Etagen frei von tragenden Konstruktionen, weil das Haus an fünf Pylonen aus Edelstahl hängt. Es ist vermutlich das einzige tragbare Hochhaus der Welt. Wie Hong Kong im Jahre 1916 wohl ausgesehen haben mag?

Von New York und vielen anderen US-amerikanischen Städten sind die Umstände recht gut bekannt. Das Licht der Sonne entwickelte sich immer mehr zu einer wertvollen Ressource, die immer seltener wurde. Naturgemäß schien die Sonne wie schon immer über dem Dunst der Städte weiter, aber sie konnte von den Amerikanern immer seltener erlebt werden, die tief in Gebäuden arbeiteten und im Schatten der Nachbarschaft lebten. Allerdings muss man sich davor hüten, das Bild, das Experten davon zeichneten, für die Realität für alle zu halten. Denn in den USA gab und gibt es endlose Prärien, wo man sich über ein schattiges Plätzchen freut. Menschen in den Staaten wie Florida – The Sunshine State – oder New Mexico - Land of Enchantment (Land der Verzauberung) – konnten über die Bilder der Düsternis nur lachen. Über Arizona muss man Wolken häufig ohne Erfolg suchen. So betrug die Niederschlagsmenge im Jahr 2022 ganze 112 mm! Die fernen Sonnen konnten indes die Probleme der Städter nicht heilen. Deren Bewohner hätten sich in die Sonnenscheinstaaten begeben müssen. Was sie auch tatsächlich taten, wenn sie entsprechend gut betucht waren. Manche reisten sogar in unvorstellbar ferne Länder wie die Schweiz, um Heilung von der Krankheit der Finsternis Nummer 1 zu erhalten. Diese war zunächst als die Tuberkulose ausgemacht, deren Verbreitung man den fehlenden Sonnenstrahlen zuschrieb. Später identifizierten Experten diese Strahlen als Ultraviolett (UV). Eine der wichtigsten Aufgaben der elektrischen Sonne sollte die Heilung von Tuberkulose werden. Doch der Star unter den Krankheiten der Finsternis war zweifellos die Rachitis. Ihr wollte man vorbeugen so gut es ging. Bis zum Zweiten Weltkrieg tobte ein Kampf gegen die Finsternis mit zwei unterschiedlichen Mitteln.

Das erste Mittel war, wie schon beschrieben, die Sonne, der man wieder mehr Zugang in die Städte und dort in die Wohnräume verschaffen wollte. Dieser Kampf sollte sogar die Ära des Progressivismus noch überdauern. In die Arbeitsräume indes kam die Sonne nie mehr zurück. Sonnenschein im Rostgürtel43Der Rust Belt („Rostgürtel“), früher Manufacturing Belt, ist die älteste und größte Industrieregion der USA. Er erstreckt sich im Nordosten der USA entlang der Großen Seen von Chicago über Detroit, Cleveland, Cincinnati und Pittsburgh bis an die Ostküste zu den Ausläufern der Metropolregionen Boston, Washington, D.C. und New York City. Damit umfasst er Teile der Staaten Illinois, Indiana, Michigan, Ohio, Pennsylvania, New York und New Jersey, teilweise wird auch noch West Virginia hinzugezählt, das ein Zentrum des Kohlebergbaus war. Seltener werden auch Teile Iowas und Wisconsins zum Rust Belt gezählt. @ abgerufen 12.03.2022, früher auch Manufacturing Belt genannt, wäre ein unerreichbarer Traum gewesen. Und die USA zeichnet sich als das Land aus, in dem das Massenbüro erfunden und betrieben wurde. Der Fachbegriff hierfür ist „open plan office“. Man darf diese nicht mit dem Großraumbüro verwechseln, das von Quickborner Team Ende der 1950er Jahre als Organisationskonzept entwickelt wurde.44Open Plan ist die Bezeichnung von großen Räumen ohne Begrenzungen wie Wände, deren Besiedlung man frei vornehmen und ändern konnte. Freilich wurde dieses theoretische Konzept durch eine Erfindung eines Designers ins Gegenteil gekehrt. Ein Open Plan Office ist zunächst eine offene, meist rechteckige Halle, in die man sog. cubicles setzt. Ein cubicle ist eine Zelle, deren Wände etwa Mannshöhe aufweisen. Vor den 1950ern bestand solche ein Büro aus möglichst eng zusammen gestellten Tischen, an denen die Arbeitenden meist repetitive Aufgaben erledigten. Die Revolution kam 1964 mit der genialen Erfindung des Action Office von Robert Probst, eine Kopfgeburt. Sie sollte eine Befreiung der Arbeit von den Zwängen des Raums bedeuten. Was aber einst als eine Maßnahme zur Flexibilität gedacht war, kehrte sich in sein exaktes Gegenteil um. Probst gehört nach der Meinung mancher Kritiker zu den wenigen Erfindern, die sich für ihre Erfindung entschuldigten. Er ist dabei in guter Gesellschaft von z.B. Mikhail Kalashnikov für seine Maschinenpistole oder Einstein für die Ermöglichung der Atombombe (hier). Tatsächlich hat Probst seiner Erfindung eine zerstörerische Wirkung vergleichbar mit der Atombombe zugeschrieben. Probsts Quintessenz „The cubiclizing of people in modern corporations is monolithic insanity”(1997). Das Großraumbüro ist ebenso eine Kopfgeburt, allerdings mit einem weiter gefassten Ziel als Action Office. Die Idee stammt von Eberhard und Wolfgang Schnelle und wurde im Ausland als „Bürolandschaft“ bzw. „Office Landscape“ bekannt. Der Begriff Großraumbüro selbst entwickelte sich zum Schimpfwort, weil die Unternehmen die Ziele des Quickborner Teams nicht umsetzten. Ihnen ging es eher um Kostensparungen. Die Gebrüder Schnelle wollten aber das Zusammenwirken von Teilen von Unternehmen sowie die Zusammenarbeit innerhalb eines Teils optimieren und demokratisieren. Mehr dazu hier und da. Die Auswahl ist willkürlich, weil die Begriffe wie Großraumbüro, Bürolandschaft, Open Space u.ä. in unzähligen Schlachten um die richtige Bürogestaltung eingesetzt werden. Die – vorerst – letzte Schlacht wird um den Begriff Activity Based Office geschlagen. (mehr z.B. hier) Der Anteil der Büroarbeitsplätze mit open plan soll in den USA ca. 60% betragen.

Welche Ursachen auch immer dafür verantwortlich sind, dass große Räume in den USA bevorzugt werden, man darf die treibende Rolle der Sonne dabei nicht vernachlässigen. Wenn Menschen in geschlossenen Räumen lange Zeit sitzend arbeiten, kommt den klimatischen Bedingungen eine große Rolle zu. Während ein Mensch bei sportlichen Aktivitäten wie bei Tätigkeiten, die seine Muskeln beanspruchen, sehr tolerant gegen Temperaturen ist, schrumpft diese Toleranz bei lang andauernder sitzender Denkarbeit auf wenige Grade um 21ºC. Noch stärker schrumpft die Toleranz gegen Luftbewegungen. So können gesunde Menschen mit normaler Kleidung und Bewegung bei einer Windgeschwindigkeit von 8 m/s (ca. 30 km/h) sich wohlfühlen, bei noch höheren Geschwindigkeiten spazieren gehen. Hingegen verursachen Luftbewegungen im Büro von nur 0,1 m/s immense Beschwerden. Die äußeren klimatischen Bedingungen in den USA können nicht nur krass sein, sondern auch ihre Änderung übers Jahr kann ebenso krass ausfallen.

So wurde die sog. „Klimaanlage“ in den USA erfunden, um ein ganzjähriges Arbeiten in der Hauptstadt Washington überhaupt zu ermöglichen. Kleine Räume mit öffenbaren Fenstern zur Belüftung und Belichtung galten sehr lange Zeit als Feind der Klimaanlage, weil sie schwerer beherrschbar sind als eine geschlossene Gebäudehülle. Zudem entsteht in hohen Gebäuden ein starker Schornstein-Effekt. Von Klimatechnikern kaum beherrscht bis heute ist die direkte Sonneneinstrahlung. Dieser kann man zwar Herr werden, aber erstens unvollkommen, und zweitens, nur mit aufwendigen technischen Einrichtungen wie automatisch einstellbaren Außenjalousien. Diese gehen bei Windeinwirkung dann häufig kaputt.

Ergo? Man suchte Wege, um die Einwirkung der Sonne und des Außenklimas auf die Arbeitsplätze zu verringern und gar zu eliminieren. Das Letztere sollte nach dem 2. Weltkrieg sogar dazu verführen, Schulen und Arbeitsgebäude unterirdisch bauen zu wollen. Vorerst ging es nur um eine Verminderung. Und das dazu ersonnene Mittel, der Kompaktbau, entsprach den Interessen derer, die möglichst viele Menschen auf möglichst wenig Raum unterbringen wollen. Open plan …

Das zweite Mittel zur Bekämpfung der Krankheiten der Finsternis wurde von der Lichttechnik präsentiert, die elektrische Sonne. Wenn man das Licht der Sonne nicht erfolgreich in den Innenraum bringen kann, warum nicht ihre „heilenden“ Strahlen dort künstlich erzeugen? So wurden die 1920er Jahre Zeuge der aufgehenden elektrischen Sonne, die ihr natürliches Vorbild nachbilden, ja sogar übertrumpfen sollte. Denn die Sonne am Himmel zieht ihre Bahnen ungeachtet der Wünsche der Menschen, die elektrische lässt sich hingegen beliebig steuern. Sie leuchtet immer, wenn man will. Die Protagonisten dieser Ära hießen Matthew Luckiesh und August John Pacini und waren Direktoren der Forschungslaboratorien von General Electric Company. Diese ging auf eine Gründung von Edison zurück.

Das Buch „Light and Health” von Luckiesh und Pacini45M. Luckiesh and A.J. Pacini, Directors Research Laboratories, General Electric Co, Baltimore: Williams & Wilkings. Co. 1926 von 1926 markiert die Dämmerung der elektrischen Sonne im Bereich Gesundheit. Ihre Wirkungen auf die Leistung von Arbeitenden wurde im gleichen Zeitraum, und zwar im großen Stil, in Hawthorne, USA, studiert. Ziel war es, die Erhöhung der Leistung bei Industriearbeiten durch Licht zu dokumentieren. Den Auftrag dazu hatte das National Research Council und die amerikanische Elektroindustrie erteilt. Die Studien wurden zwischen 1924 und 1933 ausgeführt. Sie ermittelten aber statt des gewünschten Effekts die Wirkung sozialer Beziehungen in einem Betrieb. „Mehr Licht = mehr Leistung“ war so nicht nachzuweisen. In die Wissenschaftsgeschichte sind die Hawthorne-Studien dennoch eingegangen, unter dem Namen Hawthorne - Effekt – eines der mächtigsten Traumata der Geschichte der Sozialwissenschaften. (mehr s. Leistung, Leistung über Alles! Eine kleine Geschichte aus Hawthorne Works)

Die Forschenden variierten in den Untersuchungen diverse Arbeitsbedingungen. Was immer sie auch taten, die Arbeitsleistungen der Mitarbeiterinnen stiegen. Pausen, Arbeitsstunden, Beleuchtung oder Bezahlung etc. wurden verändert, zum Teil objektiv verschlechtert. Trotzdem stieg jedes Mal die Produktivität. Der "Hawthorne-Effekt" wird durch die Aufmerksamkeit erklärt, die den Arbeiterinnen durch die Forscher entgegengebracht wurde. Allerdings blieb diese Erklärung bis heute nicht ohne Widerspruch.46Die Kritik an den Hawthorne-Studien und deren Ergebnissen erfolgte hochgradig politisiert. Beteiligt waren in Deutschland beide Sozialpartner. Sozialwissenschaftliche Revisionen der Hawthorne-Studien werden seit den 1960er Jahren betrieben. Sie beziehen sich aber meistens auf Teilstudien. In den Methodenlehren von Soziologie und Psychologie versteht man darunter dem Effekt, dass Versuchspersonen ihr natürliches Verhalten ändern können, wenn sie wissen, dass sie Teilnehmer an einer Untersuchung sind (Artefakt). Es kann also sein, dass die Ergebnisse einer Studie durch die Studie selbst verfälscht werden. Da diese Verfälschung im Sinne einer „objektiven“ Wahrheitsfindung in Experimenten unbedingt vermieden werden muss – Instrumente einer Messung dürfen die Messgröße nicht beeinflussen – ist praktisch bei jedem Experiment ein Nachweis erforderlich, das der Hawthorne-Effekt berücksichtigt worden ist. Völlig vermeiden kann man ihn relativ selten.

Jedem, der eine Studie unter Beteiligung von Menschen welcher Art durchführen möchte, sei ein eingehendes Studium des Hawthorne-Effekts angeraten. Als Startpunkt kann man hier oder dort lesen.

Die praktische Folge der Hawthorne-Studien für die Lichttechnik ist, dass es in 100 Jahren nicht gelungen ist, eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Menschen durch die künstliche Beleuchtung experimentell nachzuweisen. Dies gilt auch dann, nachdem der Staat in Deutschland die Erhöhung der Leistung des Arbeiters mit besserem Licht programmatisch mit Nachdruck betrieben hat. Zwar behauptet die lichttechnische Industrie stets, es gäbe eine eindeutige Beziehung zwischen der Arbeitsleistung und der Intensität der Beleuchtung (alias Beleuchtungsstärke). Den Nachweis bleibt sie aber schuldig. Dies bedeutet aber nicht, dass eine solche Beziehung nicht existiert. Sie ist eben einem Experiment mit dieser Fragestellung nicht zugänglich. Dieser Fall ist nicht einmalig in der Wissenschaftsgeschichte. Er wird von einem anderen sogar noch getoppt, der eng mit der Beleuchtung gekoppelt ist. Die Rede ist von der Typographie, der Kunst des Schriftsatzes, deren Erfolg auch nicht „nachweisbar“ ist. Dabei spielte die Typographie seit Gutenberg eine große Rolle in der westlichen Zivilisation. Man kann aber nicht nachweisen, dass typographisch bessere Schriften auch besser lesbar sind. So ging der Kampf „besseres Licht oder bessere Typographie für gute Lesbarkeit“ in den 1930ern aus wie das Hornberger Schießen.

Im Folgenden behandle ich die beiden Mittel, mit denen man versucht hat, den Krankheiten der Finsternis beizukommen. Die Reihenfolge bestimmt der historische Verlauf der Vorgänge in den USA.

Lass’ die Sonne wieder scheinen

Bücher wie „Lyrics of Sunshine and Shadow47Paul Laurence Dunbar, 1905. Dunbar war Sohn eines Sklaven. Das Buch verbindet die Dunkelheit der Städte und die dunkle Geschichte der Sklaverei, die für viele Menschen in den USA etwa dasselbe bedeuteten, wenn sie sich ihre Lebensumstände betrachteten., geschrieben von einem Sohn eines ehemaligen Sklaven, oder „The Story of my Life or Sunshine and Shadow of Seventy Years”, Werk einer Frauenrechtlerin, stellten die Stadt als einen Ort dar, in dem das Sonnenlicht die Schatten auf den Seelen der Einwohner zu vertreiben suchte. Doch es gab viele weniger lyrische Gründe dafür. Das Bewusstsein für die rein physiologische Gesundheit war immer stärker in den Vordergrund getreten. Die Sonne sollte mit ihren heilenden Strahlen Krankheitskeime vernichten oder Krankheiten vorbeugen, insbesondere der Rachitis. Bemerkenswerterweise war der Zusammenhang mit fehlendem Sonnenlicht und Rachitis fast 100 Jahre zuvor entdeckt worden, aber die öffentliche Wahrnehmung nicht weit verbreitet.48Rachitis, auch Englische Krankheit oder Rickets genannt, ist eine meist mit Vitamin-D-Mangel verbundene Erkrankung des wachsenden Knochens mit gestörter Mineralisation der Knochen und Desorganisation der Wachstumsfugen bei Kindern. Wie Knochenfunde und Untersuchungen von ägyptischen Mumien zeigen, hat es die Rachitis von der Vorgeschichte an zu allen Zeiten und in allen Teilen der Erde gegeben. Bereits im 16. Jahrhundert wusste man die Krankheit durch Lebertran zu behandeln. In 1822 erkannte der polnische Arzt Sniadecki die Bedeutung des Sonnenlichts für die Prävention bzw. Heilung von Rachitis. Sniadecki hatte beobachtet, dass die Krankheit in der Innenstadt von Warschau verbreitet war, aber in den Randgebieten der Stadt völlig unbekannt. (mehr hier) Aber die damalige Welt der Wissenschaft konnte sich nicht vorstellen, wie sich Sonnenlicht auf der Haut eines Menschen auf dessen Skelett auswirken würde. Es sollte ganze 70 Jahre (!) dauern, bis die British Medical Association im Jahre 1889 erkannte, dass die in Ballungszentren häufige Krankheit auf ländlichen Bereichen des Inselreichs selten auftrat (hier). Der polnische Arzt Sniadecki hatte bereits im Jahre 1822 beobachtet, dass Kinder in der Innenstand von Warschau häufig an Rachitis litten, während die Krankheit in den Randgebieten der Stadt unbekannt war. Etwa 100 Jahre später war die Kunde auch in den USA angekommen.

Dabei hätten die Menschen sehr viel früher über die pathologischen Wirkungen des Lichtmangels Bescheid wissen können. Der britische Arzt Forbes Winslow hatte in seinem Buch von 1867 Light: its influence on life and health die Menschen mit Zugang zu Licht und ohne als zwei Klassen von Menschen bezeichnet.49Forbes Winslow, Light: its influence on life and health, London : Longmans, Green, Reader & Dyer, 1867., S. 6 “In order properly to test the question, place side by side the robust, sunny, rosy-cheeked and happy lass or lad of the village with the pallid, sickly, melancholy girl or boy residing in one of our manufacturing towns, who are pursuing their vocation in a room or hermetically sealed building, where darkness has obtained an undue supremacy. Notice the difference between the two classes of human beings!” in Übersetzung: “Um die Frage zu prüfen [was für ein Unterschied die Lichtverhältnisse auf dem Lande und in den Industriestädten ausmachen], stellen Sie ein glückliches Mädel oder einen Jungen vom Dorf, stark, sonnig, mit rosigen Wangen und ein melancholisches, bleiches, kränkliches Mädchen oder einen Jungen aus einer unserer Industriestädte nebeneinander, die ihrem Beruf in einem hermetische verschlossenen Raum oder Gebäude nachgehen. Merken Sie den Unterschied zwischen den zwei Menschenklassen!“ Nach seinen Ausführungen gehörte moliities ossium (Rachitis bei Erwachsenen), also Knochenerweichung, zu den Folgen des Lichtarmuts wie auch Anämie und ähnliche Folgen. Winslow berief sich auf die Erfahrungen in der Antike. Sein Kronzeuge war niemand Geringeres als Hippocrates, den er mit den Worten zitiert „Alte Männer verdoppeln ihr Alter im Winter und werden im Sommer jünger.“ Die Menschen der Antike hätten auf dem Dach ihrer Häuser Terrassen errichtet, die sie solaria nannten, und wo sie ein Sonnenbad nahmen. Winslow zitiert weiterhin Plinius den Jüngeren mit dem Spruch „Levato sole levatur morbus“ (etwa: wenn die Sonne aufgeht, verschwindet die Krankheit“).

Winslow ist allerdings nicht der erste Brite, der den Spruch zitiert. Seine oben angeführten Ausführungen über Hippocrates und andere geistige Größen der Antike wie Aristoteles finden sich, übrigens passagenweise wortgleich und viel ausführlicher, in einem medizinischen Buch von 1839, dessen Autor J.G. Millingen, nicht etwa die Wiederaufstehung verschütteten Wissens über die heilsamen Wirkungen des Sonnenlichts feierte. Der Titel des Buchs lautet „Curiosities of Medical Experience“. Es berichtet von wundersamen Erfahrungen in der Geschichte der Medizin, wozu er auch die Quacksalberei zählt, der ein ganzes Kapitel gewidmet ist.50J.G. MILLINGEN, Curiosities of Medical Experience, Richard Bentley, London, 1839. Millingen zählt „Solar Influence“, ebenso ein Kapitel, auch zu dieser Art Erfahrungen. Zu den „Autoritäten“, die in dem Kapitel auftreten, gehören Namen wie Phoebus, der das Feuer des Lebens am Leben hält, alias Apollo, der als Vater der Medizin und der Schönen Künste angeführt wird. Aber Jehovah, Plato, Pythagoras, Aristoteles, Epicur oder Xenophon, sowie spätere Größen wie Ramazzini und Humboldt treten dort auf. Der Autor zieht die Wirkungen von Sonne und Mond in Zweifel, so auch die circadianen wie circannualen Einflüsse, die vom Tagesrhythmus und Jahresrhythmus des Lichts herrühren. Damit reiht er sich in die Reihen derer, die Erfahrungswissen von Menschen mit einer tiefgreifenden Erfahrung mit der Natur in einer überheblichen Weise zu Irrtümern erklären.

Die von Millingen angezweifelten Wirkungen gehören im 21. Jahrhundert zu bevorzugten Forschungsobjekten der Medizin und anderer Wissenschaften. Die Lichtforschung widmet sich seit über 25 Jahren gezielt diesem Gebiet. Sogar kaum bekannte Disziplinen wie Chronopharmakologie erzielen mit diesbezüglichem Wissen Erfolge, indem sie die Einnahme von Medikamenten an den persönlichen Tagesrhythmus des Patienten anpassen. Für Millingen, einem ausgedienten Militärchirurgen, waren diese halt Kuriositäten. Als er das Buch schrieb, war er Anstaltsarzt von Pauper Lunatic Asylum von Hanwell in Middlesex, damals und längere Zeit danach als Irrenanstalt bekannt.

Während die Bezeichnung für Nervenheilanstalten in Deutschland, frühere wie die jetzige, offen lässt, woher die zu therapierenden Zustände herrühren, ist der britische Name bereits eine Diagnose. Moonstruck wie mondsüchtig. In den Jahren um 1839, als dieses Buch entstand, kannte die Wissenschaft keine „Strahlen“ der Sonne, sondern nur ihre Wärme. Das Bräunen der Haut durch die Sonneneinwirkung wurde als ein ähnlicher Prozess wie das Braten eines Steaks verstanden. Wie an anderer Stelle in diesem Buch erläutert, wurde die Bezeichnung Wissenschaftler in dem gleichen Zeitraum geboren wie das Werk von Millingen. Man war derart von neuem Wissen begeistert, dass man schnell vergaß, dass man es vor Kurzem noch nicht kannte. Die Bescheidenheit kehrte in die Wissenschaft erst ein, als man viel mehr wusste, aber begriffen hatte, dass man viel mehr wissen kann.

Kein Wunder, dass das Wissen von Sniadecki es sehr spät ins Bewußtsein der Wissenschaft schaffte. Es sollte ganze 70 Jahre (!) dauern, bis die British Medical Association im Jahre 1889 anerkannte, dass die in Ballungszentren häufige Krankheit auf ländlichen Bereichen des Inselreichs selten auftrat.51Man sollte sich nicht wundern, wenn manche wichtige Erkenntnis lange Zeiträume wie ein Jahrhundert braucht, um anerkannt zu werden. So wird James Wharram, ein Ende 2021 verstorbener britischer Segler, als Pionier gefeiert, der mit einem vom ihm gebauten Katamaran nachgewiesen haben soll, dass Katamatane Hochsee tauglich sind. Sein Schiff war ein Nachbau pazifischer Katamarane, die seit Tausenden von Jahren den Pazifik erobern und besiedeln halfen. Gewiss, Wharram hat die Europäer davon überzeugt, dass diese Schiffe überlegene Eigenschaften besitzen, die die Europäer hätten spätestens 1778 nach der Weltumrundung von James Cook erkennen können. Sie haben es über zwei Jahrhunderte lang nicht getan. Von diesem Zeitpunkt bis zur Anwendung der neuen Weisheit sollten noch einmal Jahrzehnte vergehen. Was aber dann passierte, übersteigt die Vorstellungskraft von jedem, der sich mit der Lichtforschung auskennt.

Die Irrungen und Wirrungen, die man durchlaufen musste, bis wirksame Aktionen stattfanden, so z.B. die Geschichte des „Blauen Lichts“, möchte ich absichtlich getrennt abhandeln (s. Geheimnisse in Blau), weil man nicht genau wissen kann, ob eine Erkenntnis, die ein Wissenschaftler als Kuriosität bezeichnet (Millingen, 1839), kurze Zeit später als ewig währendes Wissen präsentiert wird mit Hippokrates als Zeitzeugen (Winslow, 1867), um dann wieder in Vergessenheit zu geraten. Nur wenig später werden sie als  revolutionär gefeiert. Tatsächlich gehörten die Aktionen der Progressives, die lichtdurchflutete Städte realisieren wollen, zur Stadtplanung im 5. Jahrhundert v.Chr. von Miletus in Kleinasien, die Hippopodamus zugeschrieben wird.52Ahmet Çakir, Quest for Natural Light, Then, Now and Tomorrow, 2021, LIGHT 4 HEALTH PUBLIC WORKSHOP AT LIGHT SYMPOSIUM WISMAR 2020/21 @ abgerufen 15.03.2022, auch als Video erhältlich, hier Die Mittel hießen agora für die Stadt und avli für das Haus. Die Römer nannten sie später forum und atrium. Die von Winslow erwähnten solaria waren öffentliche Bäder wie Heilanstalten. Jede Stadt besaß mindestens einen öffentlichen Raum zum Flanieren, der im modernen Italienisch Piazza heißt. Die Begriffe haben nicht nur Jahrtausende überdauert, sondern auch die Einrichtungen. So gibt es in Istanbul nicht nur Plätze, die Piyasa wie Piazza heißen, ein avlu wie avli gehört zu den traditionellen türkischen Häusern. Auf einer Piyasa in Istanbul tun die Leute gegen Abend fast dasselbe wie die früheren Bewohner ihrer Stadt in der Antike, flanieren.

Die Progressives hatten genau erkannt, dass die Sonne ins Haus muss. Mittlerweile war zwar bekannt, dass das weiße Licht der Sonne alle Farben des Regenbogens enthielt, das Unsichtbare, Ultraviolett, war hingegen noch neu und vielen auch unbekannt. Ebenso waren die Erscheinungsformen für Rachitis bereits lange bekannt, aber deren Genese (Entstehungsmechanismus) unbekannt. Mit Sicherheit unbekannt – oder unbewusst? - war die Tatsache, dass das Sonnenlicht im Winter in den Breitengraden von New York oder Chicago keine UV-Strahlung enthalten kann. So wurden z.B. Schulräume die Szene einer nachträglich gesehen bizarren Schulungsmethode. Man kann sie auch Heilungs- oder Präventionsmethode nennen. Um 1910 legte Louise Goldsberry, eine fanatische Aktivistin, ein Programm für Freiluft-Schulen und Outdoor-Unterricht auf. Sie hatte viele Schulen und Behörden in den USA, England und in Australien angeschrieben und um Fotos gebeten. So sammelte sie in fünf Jahren nicht weniger als 2500 Bilder aus Schulen und die dazugehörigen Informationen. Auch Waldschulen aus Deutschland und sonst in Europa waren dabei. Die Aktion markierte den Beginn eines beispiellosen Kreuzzugs für mehr Licht in der Schule. Während manches, z.B. Unterricht auf einem Dampfer mit viel Licht und Luft, im Sommer oder im Frühling ganz angenehm war, muss er im Winter von Chicago oder New York grausam gewesen sein, weil der Osten der USA für Nordwinde direkt aus Polarregionen offen ist. So kann in Chicago ein frühlingshaftes Wetter binnen eines Tages in zweistellige Minusgrade umschlagen. Und im Staat New York bildet sich eine dicke Eisschicht über den mächtigen Niagara-Fällen. So ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die Kinder in Frischluft-Klassen viel UV-Licht empfangen konnten.

Das Führen der Sonne in Wohnräume war hingegen weniger erfolgreich. Zum einen wegen der bereits diskutierten Bebauungsdichte in den Ballungsräumen, zum anderen wegen einer recht gemeinen Eigenschaft des ansonsten wunderbaren Werkstoffs Glas. Es lässt zwar Licht mehr oder weniger gut durch, aber die „heilenden Strahlen“, auf die es ankam, bleiben weitgehend draußen. Das hatte die Menschheit in den vielen Jahrtausenden der Glasnutzung nicht gemerkt, weil nur ganz wenige in geschlossenen Räumen arbeiteten. Wohnen tat man, wenn das Klima es zuließ, auch häufig draußen. In vielen Ländern verhält man sich auch heute nicht viel anders.

Glas war ohnehin teuer und ließ sich nicht in beliebigen Maßen produzieren. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde Fensterglas entweder als Butzenscheibe oder als Streckglas erzeugt; also zwei Verfahren, die den Einsatz der Glasmacherpfeife zur Grundlage haben. Der „Butzen“ entsteht produktionsbedingt als Verdickung, die der Glasmacherpfeife geschuldet ist. Fenstergläser hoher Qualität, schlierenfrei und mit präziser Dicke wurden erst dadurch möglich, dass in den Jahren ab 1952 von der Firma Pilkington das sog. Floatverfahren entwickelt wurde. Dieses Verfahren kam erst 1959 zum Einsatz, macht aber heute den größten Teil des produzierten Flachglases aus.53Zur Geschichte und Produktion des Fensterglases siehe Flachglas @

Fensterscheiben bestehen fast immer aus Flachglas, das bereits in der Antike als Massenprodukt hergestellt wurde. Ihre lichttechnischen Eigenschaften hingegen sind selbst heute relativ wenigen Fachleuten bekannt bzw. voll bewusst, obwohl der Architekt Mies van der Rohe ein Glashochhaus bereits im Jahre 1921 entworfen hatte. Seine sogenannte „Haut-und-Knochen-Architektur“ (Haut = Glas, und Knochen = Stahltragwerk) war bahnbrechend und gab der zeitgenössischen und späteren Baukunst neue Impulse. Dieses Konzept in der Architektur erwies sich als revolutionär und gab der zeitgenössischen und späteren Baukunst neue Impulse. So stehen unsere Städte voller Gebäude mit einer Glashülle als Fassade, und sogar das Spätwerk von Mies, die Berliner Neue Staatgalerie von 1968, ist im Jahre 2021 nach einer Sanierung durch David Chipperfield fast unverändert auferstanden. Wer als Fachmann, z.B. als Architekt, nach relevanten Eigenschaften von Gläsern sucht, um eine Fassade zu gestalten, findet heute zwar alle möglichen Eigenschaften wie den Brechungsindex oder die Wärmeleitfähigkeit in den Katalogen der Hersteller54Beispiel für Herstellerangaben der Firma guardianglass z.B. hier. Es werden „optische“Eigenschaften im sichtbaren Bereich (Transmissionsgrad, Reflexion nach außen, Reflexion nach innen und der allgemeine Farbwiedergabeindex Ra) angegeben. Die Überschrift für die Angaben ist „Licht“. Darüber hinaus erfährt man den g-Wert gemäß EN 410 ( Gesamtenergiedurchlassgrad), den Ug-Wert gemäß EN 673 (Wärmeverlust). Über die „Behandlung“ der UV-Strahlung oder der IR_Strahlung durch die Fassade bleibt man im Dunkeln. @ abgerufen 15.03.2023, jedoch nichts über die einstmals als „heilend“ angesehene Strahlung, also UV. Mittlerweile wäre eine solche Angabe auch überflüssig, weil die modernen Gläser UV überhaupt nicht durchlassen. Doch im Jahre 1921 hätte man gerne gewusst, wie viel UV in die Räume kommt. Denn damit verband man die biologische Wirkung der Sonne. Etwa Mitte der 1920er Jahre hatte man endgültig erkannt, dass diese lebenswichtig war. Man fragte sich, was denn die Sonne eigentlich zur Wunderwaffe gegen Tuberkulose und Rachitis machte.

Es war nicht so einfach, die Rolle von UV zu erkennen, da man bereits schon seit Längerem wusste, dass diese Art Strahlung schlecht durch Materialien durchgeht. Wie konnte sie dann in die Knochen gelangen, wenn sie nicht durch die Haut gehen kann? Zudem war man sich nicht so sicher, dass die Sonne doch nicht zerstörerisch auf die menschlichen Zellen auswirkte, wenn sie Bakterien und Erreger zerstört. Die Reformer behaupteten aber, dass das Sonnenlicht Krankheitserreger abtöten würde. Dieser Glaube sollte später in die deutschen Normen zu Tageslicht in Gebäuden (DIN 5034) einfließen. Er findet sich sogar in den Bauordnungen deutscher Länder im 21. Jahrhundert.55DIN 5034-1 (hier Ausgabe 1999-10) schrieb vor, dass Wohnräume „besonnt“ sein müssen: „Ein Raum gilt als besonnt, wenn Sonnenstrahlen bei einer Sonnenhöhe von mindestens 6º in den Raum einfallen können." Das "können" bedeutet, auch bei verhangenem Himmel gilt der Wohnraum als besonnt. Entsprechend solcher Vorstellungen schrieb die die Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesbauordnung 2018 – BauO NRW 2018) vom 21.07.2018 in § 47 Abs. (2) deutlich: "Eine reine Nordlage aller Wohn- und Schlafräume ist unzulässig". Das ist eine abgemilderte Ausführung der früheren Vorschrift, die im Jahre 1970 noch schärfer gefasst war: „Jede Wohnung muß eine ihrer Größe entsprechende Zahl besonnter Wohnräume haben. Reine Nordlage aller Wohn- und Schlafräume ist unzulässig." Die Bestimmung beruht auf einer hygienischen Vorstellung, dass das Sonnenlicht keimtötend wirke. Am Ende siegte die Vorstellung, dass eine UV-Bestrahlung durch das Sonnenlicht sowohl präventiv als auch kurierend auf die Rachitiserkrankungen wirke, und das in besonderem Maße bei Schwarzen bzw. dunkelhäutigen Menschen. Nur so konnte man der alarmierenden Entwicklung der Rachitis Erkrankungen begegnen, die sowohl in der medizinischen Fachliteratur (JAMA) als auch in der Tagespresse furchterregende Dimensionen erreicht hatten.56Alfred F. Hess and Lester J. Unger, “Prophylactic Therapy for Rickets in a Negro Community” JAMA 69 (1917): 1583–86 (Prophylaktische Therapie von Rachitis in einer Negernachbarschaft); John Howland, “Starving for Sunshine” (Hunger nach Sonnenlicht), Delineator, März 1926, 16; “Babies and Sunshine” (Babies und Sonnenlicht), Literary Digest, 1 December 1923, 27; “Violet Rays to Help Crippled Children” (Violette Strahlen helfen verkrüppelten Kindern), New York Times, 15 Oktober 1924, 25; Evans, “How to Keep Well: Light Treatments” (Gesund bleiben durch Lichtbehandlungen), Chicago Daily Tribune, 8; Royal S. Copeland, “How to Be Healthy: What You Can Do to Help a Baby Who Has ‘Rickets’ ” (Wie man gesund bleibt: Was kann man tun für ein Baby, das an Rachitis erkrankt ist?) Washington Post, 26 Oktober 1922, 8; Lulu Hunt Peters, “Diet and Health: Rickets and Sunshine” ( Ernährung und Gesundheit: Rachitis und Sonnenlicht) , Los Angeles Times, 27 March 1925, A6. Dabei bildeten die USA nicht die Vorhut in der Erforschung dieser Krankheit, vielmehr waren sie Nachzügler. Die ersten Erkenntnisse darüber, dass Licht Bakterien töte, kamen aus England. Auch die Deutschen Forscher waren nachgezogen. Der Schweizer Auguste Rollier, ein Arzt und Chirurg, gilt bis heute als Pionier der Heliotherapie bei Knochentuberkulose. Nicht zuletzt zu erwähnen, die Verleihung eines der ersten Nobelpreise für Physiologie oder Medizin an Niels Ryberg Finsen in 1903 für die Behandlung der Hauttuberkulose (Lupus vulgaris) und anderer Hauterkrankungen mit Sonnenbädern. Da Finsen in nordischen Gefilden lebte, konnte er nicht mit der natürlichen Sonne experimentieren, aber mit der Kohlebogenlampe. Aber seine Kollegen Bernhard und Rollier waren in den Alpen umso erfolgreicher gewesen.

Lichttherapie war im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts – oder am Ende des Langen 19. Jahrhunderts – zu einem Allheilmittel avanciert. Ein Buch von Frank Hammond Krusen von 1933 widmet sich etwa zur Hälfte der Lichttherapie mit UV, von Erkrankungen des Verdauungstrakts bis hin zu systemischen Erkrankungen in 9 Kapiteln.57Frank Hammond Krusen, Light Therapy, Hoeber, 1933 Der Autor gilt heute immerhin als Gründer für die Physikalische und Rehabilitative Medizin (PRM).

Während man die neuen Erkenntnisse in Schulen mit Konzepten wie die Freiluft-Schule oder Vorschriften wie die Vorgabe der Mindestgröße des Schulhofs umsetzen konnte, halfen die Konzepte nicht, die Sonne in die Wohnungen zu locken, auch wenn man die dichte Bebauung verbieten konnte. Denn Glas lässt  UV eben nur begrenzt oder nicht durch. So musste daher UV-durchlässiges Glas erfunden werden. Im Jahre 1927 war es so weit. Ein gewisser F.E. Lamplough von Trinity College erfand das UV-durchlässige Glas Vita.58F. E. Lamplough, THE PROPERTIES AND APPLICATIONS OF "VITA" GLASS, Journal of the Royal Society of Arts, Vol. 77, No. 3997 (JUNE 28th, 1929), S. 799-811 Nun konnte UV in die Wohnungen treten, so sie überhaupt existierte. Denn die Sonne enthält in höheren Breitengraden immer weniger UV-Strahlung im Sommer und im Winter gar keine. So nimmt die jährliche UV-Dosis mit der Entfernung vom Äquator ab. Die Strahlung ändert sich im Jahresverlauf, aber auch im Tageslauf. Die Luftverschmutzung tut ihr Übriges, denn auch der städtische Smog aufgrund von Luftverschmutzung übt wie Wolken Einfluss auf die Menge der auf die Erdoberfläche auftreffenden UV-Strahlung aus. Da sei daran erinnert, dass der Ausgangspunkt der Reformer die Verdüsterung der Städte durch die Luftverschmutzung war, und die Verdichtung der Wohnbebauung derart, dass die Sonnenstrahlen nicht mehr ihren Weg in die Wohnungen fanden. Ein Glas kann nur die Strahlung durchlassen, die existiert.

Vita Glass versuchte ihr Produkt mit aggressiver Werbung durchzusetzen. Die Werbung mit positiven Bildern zeigte zwei Räume, gleich aussehend, aber mit einer Hand auf der besseren Seite, die den Vorhang wegzieht und erklärt, die gesunde Strahlung käme hinein.

Screenshot

Natürlich wurde das Produkt auch in wissenschaftlicher Umgebung positioniert. So zeigt dieses Bild aus der zitierten Veröffentlichung, wie normales Fensterglas gesunde Strahlen (rechts, oben) blockiert (Anm.: Das Bild zeigt auch, dass ein Teil der UV-Strahlung durchkommt. Dieser Teil sollte erst im 21. Jahrhundert verschwinden). Vita Glass trug die Bezeichnung „Scientific Health Glass“, beim Promoten ging man allerdings mit deftigen Bildern vor. Ein damals beliebtes Bild – sogar heute teilweise in Gebrauch – ist das Bild des Diebs, der einen um etwas Wichtiges erleichtert. In diesem Falle stahl der Dieb die Gesundheit. Manchmal saß der arme gebeutelte Mensch in einer Höhle, manchmal auch in einer Gefängsniszelle mit gestreifter Gefängsniskluft. Die ersten Versuche mit Vita Glass fanden tatsächlich in einem Zoo statt. Eigentlich war Vita das Ergebnis einer bizarren Kooperation eines Physiologen mit einem Chemiker und einem Zoo. F.E. Lamplough thematisierte die Rolle vom Glas in der Lichttherapie von Tuberkulose.59Lamplough, F.E. The role of glass in relation to light treatment, The British Journal of Tuberculosis, Vol. XXII, April 1928 Ein Chemiker zeigte, wie Tiere im Zoo ohne Sonne vegetierten. Die komplette Geschichte von Vita Glass im Londoner Zoo wurde 2018 aufgerollt.60Aus New York Times, 5. Mai 1927 “These Lions in the London Zoo Chose Vita Glass by Instinct”, mehr s. Zoology Jottings @ 15. Oktober 2018

Als der Platzhirsch, die Firma Pilkington Bros, ins Geschäft einstieg, wurde das profane Fensterglas zu einem Instrument hochgejubelt, das Gebäude in eine Art Heilinstrument verwandelte. „Glass of life“ sollte lange Winter erträglicher machen, verlorene Vitalität ersetzen, Erkältungen vermeiden …

So kurzlebig Vita Glass auch gewesen sein mag, es lebt heute in der Literatur fort. In 2017 erschien ein ganzes Buch mit 10 Kapiteln auf 248 Seiten, dass sich Vita Glass widmete, sein Titel „Durch das heilende Glas – Shaping des modernen Körpers durch die Glasarchitektur.“61John Stanislav Sadar, Through the Healing Glass - Shaping the Modern Body through Glass Architecture, 1925-35, Routledge, ISBN 9781138573437 Licht, Medizin, Gesundheit und Glas – Von Finsens Lichttherapie zu Lamploughs „Vita Glass“, so lautet der Titel eines Kapitels.62Der Titel des Buchs von John Stanislav Sadar ist mehrdeutig. „Through“ bedeutet in erster Linie „durch“ wie durchtreten, passieren. Die zweite Bedeutung bezieht sich auf die zeitliche Dimension wie die Entwicklung eines Objekts oder Vorganges in der Zeit. „Shaping the Modern Body through Glass Architecture, 1925-35” kann daher auch in diesem Sinne verstanden werden. Dokumentiert ist zudem, wie die großen Hersteller von Fensterglas ihre Politik aufeinander abstimmten. Sie waren keine Nischenhersteller, sondern die Nummer 1 und die Nummer 2 der britischen Glasindustrie (Pilkington Bros. und Chance Bros.).63Die Firma Change Bros. ist der Nachfolger der Firma British Crown Glass Company, die der Gründer in 1824 gekauft hatte. Sie war in den 1920ern der zweitgrößte Hersteller von Fensterglas, aber auch Hersteller von anderen Glasprodukten wie das berühmte „Handkerchief“-Design für Vasen. Change Glass war eine Epoche machende Produktion. Mehr hier oder da. Ihre Geschichte begann mit dem Kauf der British Crown Glass Company und dauernd bis heute fort. Die Firma wurde allerdings in 1945 von Pilkington Bros. aufgekauft. In 1992 wurde sie wieder unabhängig unter dem Namen Change Glass Limited. Im 20. Jahrhundert war Chance sowohl in Glasdesign tätig (Swirl Pattern ((1955), Lace (1951), Night Sky (1957), Green Leaves (1958), Calypto (1959), Anemone (1965), als auch im technischen Bereich. Dort hat sie z.B. Spritzbesteck für Mediziner oder Röhren für Radargeräte produziert. Die erste wiedernutzbare Spritze der Welt wurde von Chance hergestellt. Als Einmalspritzen aus Kunststoff den Markt eroberten, wurde deren Produktion eingestellt. Die alte Glasspritze ist wieder in, weil Wegwerfprodukte mit Billionenauflagen, die auch noch mit Medikamenten kontaminiert sind, nicht der Weisheit letzter Schluss sein können.

Auch zu Chance-„Produkten“ gehört das Zeigerfeld von Big Ben und die Fassade von „The Crystal Palace“ in London für die erste Weltausstellung von 1851. Beide gehörten zu den Unternehmen, die während der Industriellen Revolution und im Herzen dieser gegründet worden waren.

Wenn die ganz Großen in ein Geschäftsfeld einsteigen, dann kleckern sie nicht mit Werbung und Marketing. Da man das Unsichtbare schlecht instrumentalisieren kann, verwies man auf das Sichtbare, z.B. auf die gebräunte Haut. Der Glaube an die Heilkraft der Sonne wurde somit zu einem Höhepunkt getrieben. War die blasse Haut einst ein Zeichen hohen Adels, dessen Angehörige deswegen auch heute noch als blaublütig64Die Bezeichnung blaublütig für den Adel kam wahrscheinlich im frühen Mittelalter in Spanien auf. Sie bezieht sich darauf, dass die Blutadern unter der Haut blau erscheinen. Das liegt aber nicht an der Farbe des Bluts, sondern an der Physik der unterschiedlichen Durchdringung der Materie durch die Sonnenstrahlen. Die vermeintliche ‚Blaufärbung‘ des Blutes rührt daher, dass der rote (langwellige) Anteil des Lichtes deutlich tiefer in das Gewebe eindringt und vom Blut absorbiert wird, während der blaue (kurzwellige) Farbanteil des Lichtes von der Haut verstärkt reflektiert wird und kaum in das Gewebe eindringen kann. bezeichnet werden, trat an deren Stelle „tan“, also gebräunte Haut. Sie signalisierte, dass man nicht zu den armen Schichten gehört, die den Sonnentag bei der Arbeit verbringen und den Rest ihres Lebens in lichtarmen Behausungen. Tan wurde nicht etwa in den Adelsstand erhoben, sondern gleich zu den Gottheiten gezählt: Great God Tan!

Zuvor hatte in den Kreisen des europäischen Adels die Hellhäutigkeit als Schönheitsideal gegolten. Braun gebrannte Haut als Zeichen der der Sonne schutzlos ausgelieferten, im Freien arbeitenden Bevölkerung war beim Adel verpönt.65Zum blauen Blut mehr hier abgerufen 22.03.2022 Die bürgerlichen Schichten, die den Adel in seiner führenden Position beerben wollten – man denke an „höfliches“ Benehmen, das an Königshöfen eher selten gewesen sein soll -, wollten im 19. Jahrhundert genau diesem nacheifern. Und sie blieben blass. Vor und in den 1920ern kehrte sich diese Vorstellung aufgrund der hier dargestellten Vorgänge ins Gegenteil um. Ein Jahrhundert danach, in unserer Zeit, besteht immer noch dieselbe Vorstellung. Allerdings herrscht heute ein gnadenloser Kampf zwischen denen, die die Vorteile der UV-Strahlung hervorheben, und jenen, die immer wieder mit dem kommenden Frühling beginnend vor den Gefahren der Sonne warnen. Man hat nämlich in der Zwischenzeit gelernt, dass die UV-Strahlung ein „Agens“ ist, was so viel bedeutet wie ein Krankheiten hervorrufender Faktor.66Zum Begriff agens siehe Begriffsbestimmung hier . Ein Agens kann eine wirksame Substanz sein, aber auch negativ beladen. Die neutrale Auffassung entspricht eher der Rolle von Stoffen und Strahlung in der Natur. Luft und Wasser, beide unerlässlich für Leben, können u.U. einen schnellen Tod verursachen. UV kann Zellen angreifen und Mutationen bewirken, Und Mutationen sind nach der Vererbungslehre Grundstein für die Entwicklung der Natur.

Diese späteren Auseinandersetzungen lagen noch in weiter Ferne. Erst ging es darum, die grundlegenden Vorteile der Sonnenstrahlung in den Vordergrund zu schieben. Solche Kampagnen beginnt man mit öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten und „wissenschaftlicher“ Forschung. Das erstere, die Schaffung einer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, fing man bei Vita Glass mit Arbeiten an Zoos. Dies lag nahe, denn Zootiere wie Löwen lebten (und leben heute noch) wie ein Schatten ihrer wahren Existenz. Ihre Apathie lässt sich mühelos aus den müden Augen ablesen. Also machte man sich an die Tiere des Londoner Zoos heran. In 1927 meldete New York Times Vollzug. Eine Werbung von Vita Glass meldete, Tierärzte hätten einen Löwenkäfig mit einer Glasscheibe (natürlich Vita Glass) versehen, woraufhin die Tiere zum „Vollspektrum“-Sonnenlicht wanderten. Sie fühlten sich besser, ihr Fell glänzte, und sie hatten besseren Appetit. Später kamen die Eidechsen dran. Sie fühlten sich im Vollspektrum-Licht wohler. Der Begriff sollte später Karriere machen, z.B. durch den Pionier der Vollspektrum-Lampe John Ott, der diese in nichts geringerem als in dem historischen Tauchgang der Nautilus unter der Eiskappe der Nordpolarmeeres erprobt haben soll.67John Ott war ein Fotograf und Filmer. Bei der Vorbereitung des Disney Films Cinderella hat er entdeckt, dass die Kürbisse unter unterschiedlichem Licht anders gediehen. Er schrieb ein Buch mit dem Titel „Health and Light: The Effects of Natural Daylight and Artificial Light on Man and Other Living Things“ über die Wirkungen von Licht mit starker Betonung des Vollspektrums. Er war der Gründer von Ottlite Technologies, ein Protagonist von „natural daylite lamps“. Die Story von der Lampe und John Ott wird hier beschreiben. Eine ausführliche Diskussion der Wirkungen der Vollspektrumlampe findet sich hier: Vollspektrumlicht – Eine kritische Würdigung der Literatur, Cakir, 2009.

Die Aktivitäten von John Ott führten zu vielen Kontroversen mit der lichttechnischen Industrie und ihren Experten. Diese behaupteten einige Jahrzehnte lang, das menschliche Auge könne das Spektrum des Lichts nicht auflösen, weil es nur drei Sensoren für die Farbwahrnehmung hätte. So wären alle Lichtquellen als gleich zu betrachten, sofern sie die gleiche Lichtfarbe ergäben. Das Spektrum wäre somit gleichgültig. Nach einer Norm, die im Jahre 2018 angenommen wurde, unterschiedet sich die Wirkung einer Lichtquelle wie eine Glühlampe wesentlich von der einer „Tageslichtlampe“ hinsichtlich ihrer physiologischen Wirkung. Die Grundlage für die Berechnung der lichttechnischen Größen ist das Spektrum!

Ungeachtet dieser Diskussionen bot die Industrie Lampen mit der Bezeichnung „Tageslicht“ in diversen Variationen wie Tageslichtweiß. So kennt die deutsche Firma OSRAM sieben Lichtfarbengruppen, von denen drei „himmlischen“ Ursprungs sind (Skywhite, Cool Daylight, Daylight). (Dokument leider ohne Datum, Signatur “103W002DE OSRAM CSM CC 02/08 WE“).

Eine Studie des New Yorker Mediziners Walter H. Eddy wies nach, dass Fenster aus Vita Glass UV- durchlässig sind und zwar auch im Winter in New York. Wörtlich heißt es in dem Bericht der Studie „Unsere Tests haben gezeigt, dass die so ausgestatteten [also mit Fenstern aus Vita Glass] Schulräume in Wintermonaten genügend ultraviolette Strahlen zum Heilen oder Vorbeugen von Rachitis erhalten.“68[Eddy, Walter H., The Use of Ultra-Violet Light Transmitting Windows, American Journal of Public Health, December 1928. Bild leicht modifiziert ] Der Nachweis wurde mit Hilfe des Knochenwachstums von Ratten durchgeführt. Die Frage ist nun, woher der Forscher die UV-Strahlung hernahm, die im New Yorker Winter Rachitis vorbeugen sollte. Diese lässt sich im Winter gerade noch nachweisen und liegt im untersten Bereich, so dass Menschen sich den ganzen Tag ihr aussetzen dürfen, ohne dass sich eine feststellbare Wirkung ergibt. Zudem sehen die veröffentlichten Wirkungen nicht gerade so aus, dass man ohne eine Interpretationshilfe denen Überzeugendes entlocken könnte. Wenn Dr. Eddy angegeben hätte, mit einer Höhensonne gearbeitet zu haben, könnte man das Ergebnis vielleicht hinnehmen. Der Test wurde aber in März mit Sonnenlicht durchgeführt.

Erst musste aber eine Argumentenkette aufgebaut werden. Die vereinten Kräfte von Pilkington und Chance mussten eine Assoziation zwischen Glas, Sonnenlicht und Gesundheit schaffen. Die Kette lief so: Krankheitserreger befallen den Menschen → UV-Licht tötet die Erreger → Gesundheit ist ein Zustand ohne Krankheitskeime → also: UV-Licht sorgt für Gesundheit. Und was sorgt für UV-Licht in Innenräumen? Normales Fensterglas blockiert UV-Licht → Vita Glass lässt UV-Licht durch → also sorgt Vita Glass für Gesundheit. Damals war die Definition der WHO Weltgesundheitsorganisation zu Gesundheit noch nicht geboren, die da besagt, dass Gesundheit nicht eine Abwesenheit von Krankheit ist. Und keimfreie Umgebungen lassen sich auch heute noch nicht schaffen. So konnte der Aufbau der Marketing-Story erfolgreich erfolgen, wenn auch mit großen Schwierigkeiten. Am Ende sollte sie aber für die Ziele der Glasindustrie sogar fatal auswirken. So konnte die elektrische Sonne ihren Lauf zu ihrem Zenit nehmen.

Wie in der Marketingbranche üblich, folgten den Tierexperimenten unvermeidlich solche mit Kindern. Erst wurde aber mit einigen horrenden Zahlen getrommelt. Die Zahlen rachitischer Kinder in nördlichen Städten wurde in der Werbung auf 97% gesteigert und die Frage gestellt „Ist dieser kleine Kerl keine 25$ wert?“ Eine vergleichende Studie in einer Londoner Schule wurde zitiert mit einem Erfolg beim Wachstum von Kindern, die in Räumen mit Vita Glass Fenstern besser gediehen und mehr rote Blutzellen produzierten. Die Jungen zwischen neun und elf Jahren wuchsen 1,22 Zoll (3,1 cm) länger als ihre Altersgenossen in normal verglasten Klassenzimmern. Und die Mädchen gediehen noch prächtiger, sie wuchsen um 1,86 Zoll (4,28 cm) mehr und nahmen um 6,11 Pfund mehr zu.

Nunmehr wurden Vita Glass und Sonne als eine Art Standard angesehen. Bei der Planung einer Schule mit 24 Klassenräumen in Berlin wurde nicht nur ein Dach aus Vita Glass vorgesehen, der Einlass von maximalem Sonnenlicht in die Klassen diktierte auch das Material. So wurde statt Holz Stahl eingeplant, damit die Schatten kleiner ausfielen. Die Fassade musste zum Süden ausgerichtet werden, damit mehr Sonnenlicht eingefangen werden konnte.

Der Erfolg des Vita Glass rief aber auch Kritiker auf den Plan. So wurde in einer Zeitschrift (Stirling Journal) dargelegt, dass zwar die von Vita Glass vorgelegten Daten über das Wachstum von Kindern richtig seien, aber solche Wachstumsraten wären auch in sonstigen Schulen üblich.69John Stanislav Sadar Through the Healing Glass: Shaping the Modern Body through Glass, S. 201

Am Ende schlug sich Vita Glass durch die eigene Argumentation. Zwar wurde die Bedeutung von UV-Licht für die Gesundheit anerkannt. Aber die Fähigkeit des besonderen Glases UV-durchlässig zu sein, konnte bezweifelt werden, zumal es schnell alterte. Viel bedeutsamer war aber die Tatsache, dass der zu bekämpfende Umstand eigentlich der Smog der Großstadt war. Dieser verschmutzte die Glasflächen recht schnell. Zudem bezweifelten viele, ob das Sonnenlicht die Smogschichten würde hinreichend gut durchdringen können. So berichtete Stirling Journal sinngemäß: „Der Bericht ergab, dass die Transmission der ultravioletten Strahlen durch die rußbeladene Staubatmosphäre stark gemindert wurde und daher in Industriestädten der Einsatz von Vita Glass kaum wirksam funktionieren könnte.“

Man kann darüber schmunzeln, dass zwei Unternehmen, die im Herzen der Industriellen Revolution residierten, das Verschmutzungsproblem nicht gesehen hatten. Da zudem eine Wirkung nur in den Sommermonaten zu erwarten war,  würde z.B. das einfache Öffnen der Fenster auch dasselbe bewirken. Wozu dann teures Spezialglas? In den Freiluftschulen war das Ganze ja bereits üblich gewesen. Auch das Öffnen der Fenster wurde praktiziert. Und das auch im Winter in Chicago. Allerdings war es nicht mehr als ein frommer Wunsch, zu glauben, dass die UV-Strahlen die vermummelten Schüler überhaupt erreichen könnten. Man kann auch heute, etwa ein Jahrhundert danach, sogar Fachleute finden, die über ein Erzeugen von UV-Licht in Innenräumen sinnieren. Ganz abgesehen davon, dass bestimmte Vorschriften dies vermutlich nicht erlauben würden, können bekleidete Menschen UV-Licht nur über die unbedeckten Teile des Gesichts empfangen. Zudem müssten die Strahler nicht an der Decke angebracht werden, weil die Strahlung vorwiegend die Haare trifft. Wie man die UV-Strahlung auf das Gesicht von Menschen aufbringt, ohne die Augen zu treffen, ist keine Überlegung wert. Man erlebt in den Solarien, was zu tun ist. Mit UV-Filtern vor den Augen herumlaufen, dürfte für den Alltag ziemlich umständlich zu sein.

Die Glasmacher sollten am Ende erleben, dass sie nur Wegbereiter der elektrischen Industrie  geworden waren, die der Welt die gesunde elektrische Sonne präsentierte. Diese sollte und konnte überall und ewig scheinen. Und ihren natürlichen Vorgänger nach fünf Milliarden Jahren ablösen. So ganz nach dem Wunsch der elektrotechnischen Industrie. Die Creme der uralten Glasindustrie als nützliche Idioten, die den Neulingen im Geschäft den Weg in die Wohnstuben bahnen! Das hätte sie sich nicht träumen lassen. Allzeit bereit – die elektrische Sonne. Nur auf Knopfdruck konnte man sie noch nicht an den heimischen Himmel holen. Man musste die Lichtschalter noch drehen. Die Menschen hatten die Öllampe und ihren Drehknopf noch nicht ganz vergessen. Trotzdem war es ein Klacks.

Aber der Wunsch, UV-Licht in die Innenräume zu holen, erschöpfte sich nicht in Schulräumen. Auch bei längeren Fahrten mit der Eisenbahn sollte der gesundheitsbewusste Mensch die heilenden Strahlen der Sonne genießen dürfen. Die Züge der Firma Burlington Route von Chicago nach Twin Cities, Nebraska, wurden mit UV-transparentem Glas versehen. Selbst auf der Fahrt zum Sonnenschein, auf Reisen in die Karibik, sollten die Reisenden die UV-Strahlen genießen.70Die Schiffe in Richtung Karibik lockten mit offenen Decks und dem Spruch „Du, die See und Vitamin D“ @ abgerufen 22.03.2022 Wer es nicht ganz bis in die Karibik schaffte, reiste bis an dessen Rand, z.B. St. Petersburg in Florida, Werbename „Sunshine City“ – die Stadt des Sonnenscheins im Lande des Sonnenscheins (Florida)“.

Wer alte Westernfilme anschaut, wird nicht selten Leute sehen, die in den „Westen“ gekommen sind, um gesund zu werden. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Eisenbahngesellschaften massenweise Menschen aus dem industrialisierten Osten der USA mit dem Versprechen nach Sonne und Grün in den Westen gelockt. Dass die dortige Sonne dem Grün häufig keine Chance ließ und es verbrannte, sobald der Frühling vorbei war, und dass es dort so viel Sonne gab, dass es schwer war, sich irgendwo zu verstecken, war auch kein Thema, als in den 1920ern gesundheitsbewusste Menschen in Städte wie Tucson, damals „America’s Winter Playground“ ohne Konkurrenz, gelockt wurden. Tucson zeichnet sich durch ein Wüstenklima aus. Dort fällt jährlich nur 26 cm Regen. Die Stadt bildet ein Ende des Sonnenkorridors, an dessen Gegenende Phoenix sitzt. Den Namen hat das Land, das beide Städte und den Sonnenscheinkorridor beherbergt, von den ersten spanischen Eroberern bekommen – Arizona wie aride Zone, also Wüste. Der größte Teil des Arizona Sun Corridor, heute eine Megaregion, ist die Wüste Sonora. Selbst Death Valley, dessen Name nichts Gutes bedeutet, Tal des Todes, wurde zum Sanatorium stilisiert.71Artikel in Los Angeles Times behandelten Palm Springs und Death Valley als wären sie Sanatorien. @ S. 142 abgerufen 22.02.2022 Die tollste Werbung für Tucson, die Wüstenstadt, gelang deren Bürger Henry Wright Bell, der öffentlich berichtete, sein Leben der Sonne zu verdanken. Sein in 1924 in American Magazine erschienener Bericht „Why I Did Not Die“ wurde zu Serien verarbeitet und in anderen Publikationen wieder veröffentlicht. Am Ende stand sogar ein Buch des The Sunshine Climate Club, der sich auch heute Caballeros del Sol nennt.72Caballeros del Sol erzählt ihre Geschichte, wie sie Tucson zum Sonnenscheinmekka machten, hier ausführlich @ abgerufen 22.03.2022 Warum ich nicht starb oder Wie ich dank der Sonne überlebte – Sprüche die vergessen ließen, dass ein Leben in der Wüste kein Zuckerlecken war.