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Geheimnisse in Blau
Zum neuen Elixir des Lebens
„Blau macht schlau“ ist noch das Einfachste, was über den Beitrag der Beleuchtung zum Leben gesagt wird. Gemeint sind die Wirkungen, die die Fachwelt als „nicht-visuell“ bezeichnet. Zwar hatten manche schon immer behauptet, Licht hätte von den Elementen den größten Beitrag zum Leben, „Lux vita est“ hieß es, noch bevor unsere Zeitrechnung begann. Sinngemäß beginnt es so in den Schöpfungsmythen, wo das Licht die Dunkelheit ablöst. So auch in der Bibel „Es werde Licht“. Doch dort löste das Licht die Dunkelheit nicht ab. Denn die Bibel sagt: „Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.” Der Tag des Schöpfers bestand also aus Abend und Morgen, Hell und Dunkel.
Die Lichtmacher konzentrierten sich aber auf das Helle und wollten, dass es überall hell wird und jederzeit. Solange sie diesem Ziel nur nachliefen, ohne eine Chance zu haben, es je zu erreichen, war das auch gut so. Bei der Darstellung von Licht 2.0 habe ich ausführlich von den Vorstellungen eines gewissen Luckiesh berichtet, der künstliches Licht als Befreiung des Menschen von dem natürlichen Gang der Tageszeiten und auch der Jahreszeiten ansah. Er wollte die Natur nicht nur nachahmen, sondern auch übertreffen. So seine Vorstellung vom idealen Licht: der ewige Sommertag und die Mittagssonne, an- und abschaltbar wann und wenn man will. Deprimierend für seine Nachfolger, festzustellen, dass viele Menschen den ewigen Sommertag bei der Arbeit eher als eine Belastung empfanden.
Nichts konnte die Lichtmacher daher mehr freuen als zu lesen, man habe einen Sensor im Auge gefunden, der die Lebensvorgänge steuere. Zwar wusste bereits zu biblischen Zeiten jeder Bauer, dass Licht und Leben eng zusammen hängen, aber glauben wollte die Fachwelt nicht einmal einem „ordentlichen“ Professor der Augenheilkunde, der bewiesen haben wollte, dass vom Wasserhaushalt des Körpers bis zu den Tagesrhythmen der Hormone alle Lebensvorgänge vom Licht abhingen.1Siehe z.B. Hollwich, F. Untersuchungen über die Beeinflussung funktioneller Abläufe, insbesondere des Wasserhaushalts durch energetische Teile der Sehbahn, Graefes Arch. Opth. 149 (1949) 592 oder Hollwich, F. Untersuchungen über die funktionellen Beziehungen zwischen dem „energetischen Anteil der Sehbahn“ und dem Zuckerhaushalt. Graefes Arch. Opth. 150 (1950), 529 oder Hollwich, F. Über Bedeutung des „energetischen Anteils der Sehbahn“ für die Regulation von Stoffwechselabläufen. Münch. Med. Wschr 94 (1952), 1057 Professor Hollwich wurde über zwei Jahrzehnte nicht geglaubt, weil ihm eine unglaubliche Fehlleistung vorgeworden wurde. Hollwich hatte die Leuchtstofflampe Leuchtstoffröhre genannt. Wem solch ein Fauxpas unterläuft, darf in der Lichttechnik nicht auf Gnade hoffen. Im 21. Jahrhundert waren aber nunmehr andere Zeiten angebrochen.
Schnell waren Leute zur Stelle, sich zum Experten der neuen Lehre empor zu arbeiten. Und die baute, auf eine einfache Basis gebracht, auf dem Glauben, dass das Blaue im Licht das Melatonin im Blut steuere, und das Melatonin die Lebensvorgänge. Ob das wahr ist?
Ein unmöglicher Umgang mit einer Farbe
Die Farbe Blau dürfte so ziemlich die am häufigsten gesehene sein. Etwa 70% der Planetenoberfläche leuchtet zu etwa 54% der Zeit2Der Tag besteht im Schnitt aus 12 Stunden Sonnenschein und etwa einer Stunde Dämmerung, also 54% hell und 46% dunkel. in Blau, wie die ersten Mondfahrer beim Erdaufgang feststellten. Das Weltmeer ist die Quelle des Lebens. Zwar leuchtet es unterschiedlich blau, aber eben stets in Blautönen. Selbst das Rote Meer scheint meistens blau, das Schwarze Meer auch. Der Himmel ist zum größten Teil des Tages blau, so ihm die Wolken nicht die Sicht auf die Erde versperren. Kein Wunder, dass Blau mit dem Himmel und dem Meer verbunden wird, mit großen Naturerlebnissen. Blau ist die Lieblingsfarbe der meisten Menschen in unserer Kultur, was wohl daran liegt, dass Blau beruhigend wirkt. Es ist in allen Kulturen archetypisch dem Wasser und dem Himmel verbunden. Damit symbolisiert es als kalte Farbe (rechte Seite des Farbenkreises) das Kühle und Feuchte. Nach Goethes Farbenlehre stellt Blau den Kältepol des Spektrums dar. Blau wird auch häufig mit Reinheit und Klarheit assoziiert.
Obwohl sich Goethe mit der Antike und ihrer Kultur identifizierte, ist mir nicht bekannt, dass er sich darüber mokiert hätte, dass weder die Römer noch deren Vorgänger, die Griechen, für diese Farbe kein Wort hatten. Für sie war das die Farbe der Barbaren, die Kriegsbemalung der Germanen und Kelten. Also barbarisch. Die Christen haben die Farben der Antike gerne übernommen, bevorzugt Weiß, Schwarz und Rot, aber auch Grün. Blau war nicht ganz in. Sie war die Farbe der Bauern.
Im Christentum stand Blau aber als Farbe des Himmels ab dem Mittelalter mit dem Göttlichen, dem Überirdischen in Verbindung. Der Trend wurde von dem Wunsch eingeleitet, immer größere und prächtigere Kirchen zu bauen. Auf einmal gab es blaue Kirchenfenster, Marienfiguren wurden mit blauem Kleid dargestellt, es tauchten blaue Wappen auf und blau wurde die Farbe des Königs von Frankreich. So galt diese Farbe mittlerweile als weiblich und wurde der Jungfrau Maria zugeschrieben. Blau steht für Sanftmut – aber im Gegensatz zum präsenten, gelassenen Grün, ist Blau ruhig durch Distanz. Dies könnte mit einer Eigenschaft des menschlichen Auges zusammen hängen, der unterschiedlichen Brechung der Farben. Blau wird stärker gebrochen als Rot und wir werden somit kurzsichtiger. So wirkten Kirchräume mit blauen Fenstern viel größer als sie waren. Ein Gefühl der Unendlichkeit war dann die Folge. Das haben nicht nur die alten Baumeister ausgenutzt, sondern z.B. Egon Eiermann in der Berliner Gedächtniskirche.
Viele Völker der Erde haben ihre Fahnen entweder auf blauem Tuch entwickelt oder Blau als Farbe des Kreuzes oder der Streifen benutzt. Bayern hat seine blau-weiße Fahne sogar nach Griechenland exportiert. All das zeigt, dass Blau für Menschen eine große Bedeutung besitzt. Wie geht aber die Lichttechnik damit um?
Um die Frage zu beantworten, wie die Lichttechnik mit der Farbe Blau umgeht, muss man erst angeben, was man unter Lichttechnik versteht, denn die Farbenlehre und die Farbmesstechnik gehören im weitesten Sinne auch dazu. Sie gehen aber mit Blau anders um als die Beleuchtungstechnik. Die letztere betrachtet vorwiegend weißes Licht, und weiß bedeutet, dass es sich um eine Mischung von Farben handelt, die den Eindruck vermittelt, das Licht sei farblos, im Fachjargon unbunt. Wie die Mischung aussieht, ist damit nicht gesagt. Und unbunt ist alles, was nicht bunt ist, grau, weiß, schwarz, farblos oder gar neutral. Die Bevorzugung weißen Lichts in der Lichttechnik beruht auf der Zielsetzung der Beleuchtung, die Farbempfindungen nicht selbst erzeugen soll, sondern Objekte und Umgebung so beleuchten, dass dort vorhandene „Farben“ möglichst gut wiedergegeben werden.3Das Wort Farbe ist zweideutig. Zum einen bezeichnet sie die Mittel, mit denen Objekte ihre farbliche Erscheinung bekommen, so etwa die Tinkturen, die man im Farbengeschäft kaufen kann. Die andere Bedeutung gilt der Empfindung im Auge. So ist ein Gegenstand rot, wenn man es als solches sieht. Ein Topf roter Farbe oder ein Brett, das man damit streicht, können auch schwarz aussehen, wenn man sie mit unpassendem Licht anstrahlt. Das menschliche Blut, eine der bekanntesten Farben, sieht unter Wasser nach wenigen Metern grau aus, in der Tiefe schwarz. Anders gesagt, die Beleuchtung soll gegenüber den Objekten neutral sein. Das wird sie vermutlich immer bleiben.
Die Währung in der Beleuchtungstechnik basiert auf der Helligkeit. Die CIE wollte daher den Lichtstrom sogar anstelle der Lichtstärke als internationale Basisgröße etablieren, weil dieser ein Maß für Helligkeit liefere. Und bei der Berechnung des Lichtstroms einer Lichtquelle ziehen gerade die Farben, die man am häufigsten auf den Fahnen findet, also solche mit dem höchsten Emotionswert, Rot und Blau, den Kürzeren. Das liegt an der Bewertungskurve, die die CIE 1924 als die Kurve der Augenempfindlichkeit des Menschen festgelegt hat. Alle lichttechnischen Größen und auch die Messinstrumente beruhen auf dieser Kurve. Sie gilt für die Hellempfindung. Und blaues Licht erzeugt bei gleicher physikalischer Strahlungs-Leistung eine viel geringere Hellempfindung als grünes Licht.4Hellempfindung darf man nicht mit Auffälligkeit verwechseln. Zwar wird das Auge bei unterschiedlich grauen Objekten gleicher Art immer zu dem hellsten gelenkt werden. Wenn die Objekte gleiche Helligkeit haben, wird das Auge zum auffälligsten gelenkt. Bei schwarzen Bildschirmen ist das die Farbe Gelb, beim weißen Papier die Farben Rot oder Blau.
Würde man Licht statt an der Helligkeit am Menschenauge z.B. am Pflanzenwachstum messen, wären die Verhältnisse genau umgekehrt. Rot und Blau hätten die größte Bedeutung, während die meisten Pflanzen mit Grün nicht viel anfangen können. Man könnte theoretisch auch die Betonung einer Farbe oder bestimmter Farben zum Maßstab machen statt die Hellempfindung. Ob das mehr Sinn machen würde, sei dahin gestellt. Allerdings stellt sich die Frage erneut, seit man den neuen Sensor gefunden hat, der empfindlich auf Blau reagiert. Man hat in diesem Sinne sogar alle lichttechnischen Größen neu aufgestellt. So muss man jeder Größe, die eine visuelle Wirkung messen soll, einen Index „v“ anhängen, v wie visuell. Soll sie sich eher auf die nicht-visuelle Wirkung beziehen, kann man den Index „mel“ wie melanopisch dahinter hängen.
Leider reicht das immer noch nicht für ein Maß, denn die melanopische Wirkung entsteht nicht überall im Auge und auch nicht wenn das Licht von überall her kommt, sondern nur von vorn. Man muss also völlig neu denken, wenn man die Diskriminierung von Blau beseitigen will. Warum das so ist, zeigt das Bild in aller Undeutlichkeit.5Quelle Trilux @ 27.12.2022 Alles Licht, was von unten ins Auge kommt, bleibt melanopisch unwirksam. Was direkt von oben kommt, zum größten Teil auch. Diejenige Größe, die für gute 100 Jahre die fast alleinige Basis der Beleuchtung von Arbeitsstätten bestimmte, die Horizontalbeleuchtungsstärke, geht daher in die melanopische Berechnung mit Nichts ein. Darf sie auch in Rente gehen? Leider nicht, denn man braucht sie immer noch, um das Sehen zu erklären.
Menschen, die Wohnräume beleuchten, werden weniger von der Idee befremdet sein, weil sie dort auch Wandleuchten u.ä. anbringen oder Lampen als Möbel aufstellen. Die Arbeitswelt muss man hingegen um 90º drehen, denn ihre Beleuchtung kommt fast immer von oben, so sie künstlich erzeugt wird. Ich denke, die Sache braucht eine Erklärung, besser eine Klärung. Denn die meisten Arbeitsplätze, zumindest in Deutschland und in Europa, werden mehr oder weniger mit Tageslicht beleuchtet. In Deutschland müssen es senkrechte Fenster in Augenhöhe sein. Sie können auch als Oberlichter das Tageslicht in den Arbeitsraum einbringen. Deren Beitrag zur Beleuchtung, die Beleuchtungsstärke, wird aber immer in Lux berechnet und angegeben. Für Arbeitsräume berechnet man im Wesentlichen nur die Horizontalbeleuchtungsstärke, weil die fiktive Arbeitsebene horizontal liegt.
Dass die lichttechnische Größe, die man etwa für ein Jahrhundert der Planung jeder professionellen Beleuchtung zugrunde gelegt hat und das auch heute tut, plötzlich keine Bedeutung haben soll, dafür aber eine relativ unbekannte - Vertikalbeleuchtungsstärke - die erste Geige spielen soll? Daran muss man sich gewöhnen. Ob sich die Planer jemals daran gewöhnen werden, dass das Licht Edisons nichts mehr wert ist, weil es kaum eine melanopische Wirkung auslöst?
Blau als mysteriöse Kraft
Lange bevor man an melanopische Wirkungen dachte, hatte ein gewisser A. J. Pleasonton, vom Beruf General, eine Theorie aufgestellt, wonach blauem Licht eine Heilwirkung zukam. Pleasonton argumentierte, dass Farbe enorme biologische Wirkungen entfalte und dem blauen Licht elektromagnetische Kräfte innewohnten, die in der Lage wären, den Körper zu heilen und Widerstandskräfte gegen Krankheiten aufzubauen. Ihm waren die Mechanismen der Heilung zwar nicht so klar, aber als populärer General aus der Ära des amerikanischen Bürgerkriegs gelang es ihm, eine Anhängerschar hinter sich zu bringen. Sein Buch mit dem vermutlich längsten Titel „The influence of the blue ray of the sunlight and of the blue color of the sky, in developing animal and vegetable life; in arresting disease and in restoring health in acute and chronic disorders to human and domestic animals”, der eigentlich eine Kurzfassung des Inhalts darstellt, wurde mit blauer Farbe auf blaues Papier gedruckt. Der General erklärte in dem Buch die Wirkungen vom blauen Licht mit seinen Erfahrungen mit einem Gewächshaus mit blauen Gläsern. Er hatte festgestellt, dass die Pflanzen im Frühjahr zu sprießen begannen, weil der Himmel über ihnen blauer wurde. So ließ er Gewächshäuser mit blauen Scheiben patentieren, die nach seiner Behauptung besonders ertragreiche Weinstöcke hervorbringen sollten. Später machte er mit Schweinen und Kühen weiter. Seine Gläser wurden von den Farmern massenweise gekauft. Leute haben blaues Glas in ihre Brillen eingebaut. Sogar Babys wurden in blaue Brutgehäuse einquartiert. Die etablierte Medizin verhöhnte den General und hoffte, das „Blue-glass Craze“, sinngemäß der Blauglas-Wahn, würde bald vorbei sein. Es kam tatsächlich wie erhofft. Allerdings verschwand der Blau-Wahn nicht spurlos und brachte die Chromotherapie (Farbtherapie) hervor.
Auch wenn die Farbtherapie von vielen Fachleuten als pseudowissenschaftlicher Humbug angesehen wird, kann man bereits in der Antike ähnliche Methoden finden. In Abhandlungen zur Farbtherapie tauchen auch berühmte Namen wie J. W. von Goethe oder Rudolf Steiner auf. Goethe beschäftigte sich ausgiebig mit der Wirkung von Farben auf das seelische Empfinden. Sein 1810 erschienenes Buch "Die Farbenlehre" soll er für sein eigentliches Lebenswerk gehalten haben, weit bedeutungsvoller als seine gesamten literarischen Arbeiten.
Bei Pleasonton selbst könnte die Wirkung des blauen Glases in den Gewächshäusern durchaus einen physikalischen Hintergrund haben, denn, wie oben angeführt, sind Pflanzen bei Blau empfindlicher als bei Grün, das sie zum größten Teil reflektieren. Auch Babys in blauen Inkubatoren zu legen, ist so abwegig nicht, wie man später gelernt hat. Heute ist Blaulichttherapie zur Behandlung oder zur Vorbeugung der Neugeborenen-Gelbsucht (Ikterus neonatorum) ein übliches Verfahren. Dabei setzt Blaulicht einen photochemischen Prozess in Gang. Dabei wird das wasserunlösliche Bilirubin, ein Abfallprodukt durch die noch nicht funktionierende Leber, in eine wasserlösliche Form umgewandelt. Das wasserlösliche Bilirubin kann dann abtransportiert und ausgeschieden werden.
Heute gibt es sogar Behandlungsmethoden mit blauem Licht gegen Rückenschmerzen. Auch diese Methode funktioniert über einen chemischen Prozess. Ob und ggf. was bei den Produkten des Generals Pleasonton funktioniert hat, gehört nicht zu meinem Kompetenzbereich. Funktioniert hat jedenfalls die Gründung einer mehr oder weniger illustren Lehre, die schon wenige Jahre später weitere Früchte trug. So schrieb Seth Pancoast in 1877 das Buch Blue and Red Light, or, Light and its Rays as Medicine, dessen Schrift blau gedruckt wurde, stilgerecht eingerahmt in Rot.
Nur drei Jahre danach erklärte ein Edward B. Foote in seinem Buch „The Blue Glass Cure …“ warum Pleasonton gescheitert war. Sein Untertitel des Buches hatte eine so enorme Länge, dass kein Katalog der Welt ihn in voller Länge enthält: „The blue glass cure - how and when it originated, why it has been ridiculed, Gen. Pleasanton not a success as an experimental philosopher ...“
Foote war ansonsten von der Heilwirkung des blauen Glases überzeugt und führte ausländische Autoren als Zeugen für seine Überzeugung an, z.B. Forbes Winslow mit seinem Buch „Light: Its Influence on Life and Health“
Der eigentliche Grund, warum das blaue Licht so interessant scheint, dürfte darin zu suchen sein, dass blaue Lichtstrahlen energiereicher sind. Den Jüngern des Blaulicht-Wahns folgten andere nach, die die heilsame Wirkung des Lichts der Sonne auf die Zerstörung von Krankheitserregern zurückführten. Zwei britische Mediziner, Arthur Downes und T.P. Blunt, wiesen nach, dass Licht Bakterien tötet.6Downes, A.; Blunt, T.P.: THE INFLUENCE OF LIGHT UPON THE DEVELOPMENT OF BACTERIA, NATURE, July 12, 1877 Und zwar mit seinem blauen Anteil, nicht mit UV7Die Unterscheidung zwischen Blau und UV ist künstlich durch die Lichttechnik eingeführt worden. Sie Natur kennt weder Farben noch Grenzen zwischen sichtbar und unsichtbar, sondern ein elektromagnetisches Spektrum. Tiere oder Pflanzen halten sich nicht an die Grenzen, die für den Menschen gelten sollen. Menschen übrigens auch nicht. Jugendliche können sehr wohl UV sehen.. Die Ärzteschar war wieder einmal skeptisch. Aber die Theorie, dass das Sonnenlicht Erreger töte, wurde zur Überzeugung, zumal mittlerweile Robert Koch alte Vorstellungen von der Entstehung von Krankheiten ausgeräumt hatte. Er hatte gezeigt, dass nicht Gase und Miasmen Krankheiten auslösen, sondern bestimmte Erreger bestimmte Erkrankungen. Auch durch seine Mitwirkung wurde die Rolle des Sonnenlichts in der Medizin gefestigt. Noch heute wird in deutschen Normen die Besonnung geregelt.8DIN 5034-1:2011 Tageslicht in Innenräumen Teil 1: Allgemeine Anforderungen Mindestens in NRW war eine ausreichende Besonnung sogar Bauvorschrift.9Landesbauordnung 2018 – BauO NRW 2018) vom 21.07.2018 sagt in § 47 Abs. (2): “Eine reine Nordlage aller Wohn- und Schlafräume ist unzulässig.”
Blaulicht ist, wie man sieht, kein neues Phänomen in Licht und Gesundheit, es kann vielmehr auf eine recht lange Geschichte zurückblicken. Seine hygienische Wirkung wurde schon im 19. Jahrhundert erkannt.
Blaulichtschäden – Die andere Seite der Medaille
Wenn blaues Licht Bakterien, also Lebewesen, töten kann, warum soll es vor den menschlichen Zellen Halt machen? Tatsächlich kann jeder Energieträger Schaden anrichten, es kommt nur auf die Dosis an. Insofern nichts Neues. Man kennt schon lange viele schädliche Wirkungen des blauen energiereichen Lichts und geeignete Schutzmittel dazu. Blaulichtgefahren wie alle potentiellen Schäden, die durch eine nicht-ionisierende optische Strahlung entstehen können, fallen in den Geltungsbereich der EU-Richtlinie 2006/25/EG10U (2006): Richtlinie 2006/25/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (künstliche optische Strahlung), die hier als Arbeitsschutzverordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch künstliche optische Strahlung - OStrV ist am 27. Juli 2010 in Kraft getreten ist. Hierzu gibt es auch zwei Technische Regeln11Bundesminister für Arbeit „TROS Inkohärente Optische Strahlung: Gemeinsames Ministerialblatt 2013, Nr. 65-67, S. 1301-1368 und Gemeinsames Ministerialblatt 2014, Nr. 28-29, S. 630 (Korrektur)“ und „TROS Laserstrahlung: Gemeinsames Ministerialblatt 2018, Nr. 50-53, S. 962-1044“ . Insofern hat man sich genügend den Kopf zerbrochen. Das Thema Blaulichschädigung hat Christoph Schierz ausführlich behandelt.12Schierz, Ch.: Blaulichtschädigung der Augen-Netzhaut – Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, Tagungsband, 23. Europäischer Lichtkongress, 09.-12. September 2018, Davos Daher kann an dieser Stelle auf eine weitere Betrachtung verzichtet werden
Was aber weder die Vorschriften noch die Wissenschaftler hinreichend genau betrachten, ist die längerfristige Schädigung der Makula, die Beeinträchtigung des zentralen Gesichtsfeldes. Die Beeinträchtigung wurde AMD = altersbedingte Makula-Degeneration genannt, weil sie im Alter über 50 Jahren auftrat. AMD ist eine Erkrankung der Photorezeptoren, die infolge absorbierter Lichtquanten den Sehprozess in Gang setzen und dadurch „verbraucht“ würden, so jedenfalls die Vorstellung. Da die Makuladegeneration aber auch in jüngeren Jahren in Erscheinung tritt, gibt es eine Meinung, dass sie nicht mehr altersbedingt ist.
Aus Sicht der Lichttechnik interessant ist die Vorstellung, dass die „Schäden“ durch den Blauanteil des Lichts durch den Rot- bzw. Infrarotanteil im Licht „repariert“ würden. D.h. so viel wie, dass ein potentieller Schaden nicht zur Geltung kommt, wenn Reparaturmechanismen vorhanden sind.13Die Feststellung, dass eine bestimmte Strahlung schädlich sei, erfolgt durch eine Bestrahlung der untersuchten Zellen mit Licht mit dem fraglichen Spektrum. Man kann aber in Experimenten erleben, dass eine Strahlung mit einer kritischen Dosis keinen Schaden anrichtet, wenn gleichzeitig „schützende“ Strahlen vorhanden sind. Daher muss man bei jeder Studie genau hinsehen, ob mit isolierten Spektren experimentiert wurde oder die Strahlung insgesamt ein größeren Umfang hatte. Hierbei gelten künstlich gezogene Grenzen der Strahlungsarten nicht, es muss der gesamte Bereich der optischen Strahlung berücksichtigt werden. So scheint eine Bestrahlung aus dem roten und Infrarotbereich die Entwicklung von AMD zu hemmen.14Schierz, Ch.: Blaulichtschädigung der Augen-Netzhaut – Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. 10. Symposium Licht und Gesundheit – Tagungsdokumentation, BAUA Dortmund, 1. Auflage 2019 Schierz führt dazu an: „Inzwischen erhärtet sich aber der Verdacht, dass über Jahrzehnte hinweg die viel geringeren, bei der natürlichen und künstlichen Beleuchtung vorkommenden Strahldichten zur altersbedingten Makuladegeneration (AMD) beitragen könnten.“ Und dies umso stärker, je weniger eine Beleuchtung rote und infrarote Anteile enthält, die der Schädigung entgegen wirken.15ALBARRACIN, R.; Eells, J.; Valter, K. (2011): Photobiomodulation protects the retina from light-induced photoreceptor degeneration. In: Invest. Ophthalmol. Vis. Sci. 52 (6), S. 3582-3592. DOI: 10.1167/iovs.10-6664
Das bedeutet nichts weniger als, dass die seit einem Jahrhundert gültige Effizienzbewertung nach der Augenempfindlichkeitskurve, also die gängige Währung der Beleuchtungstechnik in Lux und Lumen, hinfällig wäre. Noch schlimmer wäre die Konsequenz für die melanopischen Wirkungen, die unten erläutert werden. Diese beruhen auch auf dem Blau der Lichts. Während man sie als heilsame Wirkungen zelebriert, könnte man Ähnliches feststellen wie einst mit der Empfehlung, die Sicherheit von Nacht- und Schichtarbeit mit hohen Beleuchtungsstärken zu verbessern. Sie gilt mittlerweile als eine Einladung für Krebszellen, sich an die Arbeit zu machen.
Last not least könnte sich die Energieeffizienz für Gebäude auch als Bumerang erweisen. Denn sie führt dazu, dass man vom Tageslicht die Infrarotanteile ausfiltert, wie alle energieeffizienten Fenstergläser tun. Man filtert schützende Strahlung aus, um Energie zu sparen! Worin die Effizienz bei "energetisch sanierten" Gebäuden überhaupt besteht, muss man sich genau ansehen. Denn energetisch effiziente Gläser und deren luftdichte Rahmen nehmen mindestens die Hälfte des Tageslichts weg, das in die Häuser kommt und machen eine häufige Belüftung erforderlich.
Blau macht gesund – oder gesünder?
In den 20 Jahren nach der Entdeckung eines neuen Sensors im Auge entwickelte sich ein Hype um die nicht-visuellen Wirkungen des Lichts, als wäre dies eine Neuigkeit. Was würde man beispielsweise einer Studie mit dem hier beschriebenen Ergebnis für ein Alter bescheinigen: „Bei konventioneller Beleuchtung zeigten die Schüler deutlich mehr Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Hyperaktivität) während die Kinder in der experimentellen Lichtsituation Lernschwierigkeiten allmählich verloren, konzentrierter wurden und ihre Schulleistungen signifikant steigerten.“ Der Text liest sich wie ein Stück aus einer Norm über „integrative Beleuchtung“, die im Jahr 2022 veröffentlicht wurde.16ISO/TR 21783:2022 Light and lighting — Integrative lighting — Non-visual effects Er könnte auch aus Veröffentlichungen zu HCL (human-centric lighting) stammen, die in den letzten Jahren viel diskutiert worden sind. Die wahre Quelle ist ein Experiment von John Ott mit einer Vollspektrumlampe aus dem Jahre 1973, also etwa 50 Jahre alt.
In ISO/TR 21783 kann man lesen, dass Licht nicht nur Sehen beeinflusst, sondern auch Hormone, den Lernerfolg und die Leistungsbereitschaft. Indes, so neu ist dies auch nicht. Als ich im Jahr 1970 am Institut für Lichttechnik der TU Berlin begann zu arbeiten, gehörte eine Broschüre aus früheren Zeiten zum Lernmaterial für Studenten. Das Bild stammt aus der 18. Auflage der Broschüre, die 1970 gedruckt wurde. Viele 10,000 Publikationen seit 2002 zu nicht-visuellen Wirkungen vom Licht sagen in der Summe nicht viel anderes als diese simple Abbildung. Sie ist somit mindestens 3 Jahre älter als die Arbeit von John Ott, vermutlich aber viel mehr. Dass bestimmte Erkenntnisse in der Wissenschaft in Vergessenheit geraten oder gar viele Jahre nach ihrer Veröffentlichung überhaupt verstanden werden, ist nicht so selten. Aber im Falle des Experiments von John Ott und der in diesem Bild schematisch dargestellten Erkenntnisse handelt es sich um Wissen, das von den Lichtherstellern aktiv unterdrückt wurde. Solche Erkenntnisse könnten den Aufstieg der elektrischen Sonne gefährden. So zog man es vor, die natürliche Sonne zu verdunkeln. Denn beide, John Ott und Hollwich, von dem die Erkenntnisse stammen, haben die Bedeutung des Spektrums überhaupt und des natürlichen Lichts stets hervorgehoben. Und wurden deswegen so heftig bekämpft, als wären sie Vertreter des Leibhaftigen. Da John Ott eine Lampenmarke (True Lite) generierte, nahm die Kampagne gegen ihn handelskriegsartige Ausmaße an. Da aber derartige Argumente in der Wissenschaft nicht ziehen, machte man sich daran, die Methoden schlecht zu machen, die verwendet wurden. Das fällt besonders leicht, weil jeder Forschende verpflichtet ist, die möglichen Schwachstellen ihrer/seiner Arbeit in derselben Publikation darzulegen. Das Publikum, dem dieser Umstand kaum bekannt ist, glaubt dann der Kritik, die hinterlistig argumentiert, die besagten Arbeiten wären unglaubhaft. So wurde Otts Arbeit folgendermaßen kommentiert: „Die meisten derartigen Behauptungen basieren auf anekdotischen Beobachtungen, ungenau kontrollierten Studien oder unwissenschaftlichen Schlussfolgerungen. Die Strahlungsenergie einer elektrischen Lichtquelle unterscheidet nicht von der der Sonne. Sie unterscheidet sich lediglich in relativen Verhältnissen der einzelnen Wellenlängen.“17Ott, J. N.: Color and Light: Their Effects on Plants, Animals and People : Special-subject Issue, International Journal of Biosocial Research, 1985, zitiert aus: Klaus Stanjek: Die Schatten des Kunstlichts – Biologische Auswirkungen des Kunstlichts. In: Stanjek, K.: Zwielicht – Die Ökologie der künstlichen Helligkeit, Raben Verlag, Münschen, 1989
Warum war es nach 2002 anders? Ich denke, dass der Hauptfaktor bestand darin, dass mittlerweile eine Lichtquelle verfügbar war, die erstens beliebige Spektren herzustellen erlaubte und zweitens sehr gut steuerbar war, und zwar auch in der Farbe. So konnte das Wissen über physiologische Wirkungen nicht gegen die Hersteller verwendet werden, sondern von den Herstellern, um höherpreisige Leuchtmittel und Steuergeräte zu verkaufen. Nicht-visuelle Wirkungen hatte der schwedische Physiologe und Architekt Rikard Küller ab 1983 sehr tiefgreifend untersucht. Küllers Arbeit umfasste über 1100 Einzelpublikationen.18Erikson C., Küller R. (1983). Non-visual effects of office lighting. In Proceedings of the 20th Session of the Commission Internationale de l’Éclairage. [19] NASA (2005) Aziz Sancar, der spätere Nobelpreisträger, hatte vor der Jahrhundertwende mit Cryptochrome, Proteine, die als Photorezeptoren für blaues Licht fungieren können, Empfänger für die circadiane Regulierung in Pflanzen wie Tieren studiert.19Sancar, A.: CRYPTOCHROME: Das zweite photoaktive Pigment im Auge und seine Rolle für die circadiane Rhythmik @ und @ „Licht und Gesundheit“ bzw. „Light and Health“ waren feste Begriffe geworden, nachdem Çakir und Çakir in 1990 einen Forschungsbericht veröffentlichten, der eine starke Beeinflussung der Menschen bei der Arbeit durch Licht nachwies.20Çakir, A., Licht und Gesundheit- Eine Untersuchung zum Stand der Beleuchtungstechnik in deutschen Büros, Ergonomic, Berlin, 1990. Çakir, A., Çakir, G., Licht und Gesundheit - Eine Untersuchung zum Stand der Beleuchtungstechnik in deutschen Büros, Ergonomic, Berlin, 1998. Çakir, A., Çakir, G. – Light and Health , Ergonomic, Berlin, 1991 Dass die in Feldstudien nachgewiesenen Einflüsse auf die Störung der circadianen Rhythmik zurückgehen kann, wurde damals als Vermutung angegeben, weil die Autoren dies nicht untersucht hatten. Allerdings hatte diese Vermutung schon im Jahre 1980 bestanden, weil schon damals Forschende versuchten, die circadiane Rhythmik bei Menschen durch künstlichen Licht zu verstellen, was spätestens 1984 gelungen war.21Rosenthal, N. E., Sack, D. A., Gillin, J. C., Lewy, A. J., Goodwin, F. K., Davenport, Y., Mueller, P.S., Newsome, D.A., Wehr, T. A. (1984). Seasonal Affective Disorder: A Description of the Syndrome and Preliminary Findings With Light Therapy. Archives of General Psychiatry. https://doi.org/ 10.1001/archpsyc.1984.01790120076010 Die TU Berlin, Institut für Lichttechnik, rief im Jahr 2000 eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Licht und Gesundheit“ ins Leben, die in April 2022 zum 11. Mal stattfand. Die letzten beiden Veranstaltungen hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ausgerichtet.
Diesmal reagierte die Industrie ganz anders und hat dies mit ihrer neuen Lieblingstechnik LED verbunden. Diese zeichnete sich durch einen hohen Blauanteil aus, was sehr gut zu blau empfindlichen Empfängern passt. Zudem hatte die Industrie noch vor längerer Zeit mit „dynamischem Licht“ experimentiert, also mit Licht, veränderbar in Menge und Farbe angepasst an den Tagesverlauf.22Siehe hierzu z.B. Bommel, Wout v. Dynamic Lighting at work – Both in level and colour. CIE 2006, Ottawa, @ Die Untersuchungen von Philips haben aber schon viel früher begonnen. In Deutschland wurde ein Projekt ins Leben gerufen, das die Möglichkeiten einer kommerziellen Nutzung durch eine Normung (INS = Innovation mit Normen und Standards) diskutieren sollte. Hierzu wurde nicht nur ein neuer DIN-Normenausschuss gegründet, sondern eine Veranstaltungsreihe mit hochqualifizierten internationalen Experten aufgelegt, deren letzte Veranstaltung ebenfalls 2022 stattfand.23Die Veranstaltungsreihe heißt „DIN Expertensymposium“. Eingeladen werden nationale und internationale Experten, meist Wissenschaftler, als Vortragende sowie die von einer Normung möglicherweise Betroffene wie Arbeitsschützer, Arbeitsmediziner, Lichtplaner etc.
So weit so gut! Ist alles in bester Ordnung, wenn die Industrie mea culpa ruft und sich einen Kübel feine Asche über das Haupt schüttet? Es sind ja nicht die alten Köpfe, die mea culpa rufen. Die sind lange pensioniert oder gar tot. Dumm ist es mit deren Erbe, das in tausenden Artikeln und Büchern niedergeschrieben steht. Und da steht sehr häufig, dass normgerechtes Licht gesund sei. Was soll daran verbessert werden? Etwa gesünder sagen?
Man entschied sich irgendwie dafür, dass mit der Entdeckung eines blauempfindlichen Sensors im Auge den Beginn einer neuen Ära zu verorten und die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Dummerweise hatte man aber als Maß für Licht die Hellempfindung gesetzt, womit die Wirkung des neuen Sensors zwar anerkannt würde, aber nicht belohnt. Denn Blau ist nach herkömmlicher Betrachtung quantitativ unbedeutend. Soll man das Licht nun mit zweierlei Maß messen?
Das wäre angemessen, wenn man bei der Vorstellung geblieben wäre, die man um das Jahr 2002 hatte. Die besagte, dass sich der neue Sensor nicht um die bereits bekannten schert, also eigenständig betrachtet werden darf, etwa als drittes Auge. Dann darf dessen Empfindlichkeitskurve getrennt betrachtet und auch die Wirkung quantifiziert werden. Da die angenommene Wirkung sich auf Melatonin bezieht, nannte man sie melanopisch. Diese bezieht sich einen recht unterschiedlichen Spektralbereich, der unten skizziert ist.24Aus ISO/TR 9241-610:2022 Impact of light and lighting on users of interactive systems Da wo die Augenempfindlichkeitskurve nur noch einen sehr kleinen Beitrag zur Hellempfindung leistet, am blauen Ende, ist der neue Empfänger am empfindlichsten.
Die anfängliche Vorstellung, der neue Sensor trete recht selbständig in Aktion, musste später revidiert werden. Neuere Forschung zeigte, dass alle Sensoren im Auge gewisse Verbindungen hätten, die man berücksichtigen müsse. Eigentlich hätte man das auch so wissen müssen, denn nichts an einem menschlichen Körper funktioniert ganz unabhängig voneinander. Man kann zwar einzelne Funktionen u.U. isoliert betrachten, muss aber stets im Hinterkopf behalten, dass die Betrachtungsweise immer fehlerhaft ist. Die Fehler sind zuweilen vernachlässigbar. Nicht so beim Auge, es ist kein externer Empfänger wie das Ohr, sondern Teil des Gehirns. Anzunehmen, dass Teile davon unabhängig vom Rest fungieren könnten, war nicht gerade ratsam.
Die neue Vorstellung, die in die Normung eingeflossen ist, geht davon aus, dass alle Lichtempfänger im Auge einen Beitrag zur Melatoninunterdrückung leisten. Man musste dazu die Empfindlichkeitskurve etwas verschieben. Melanopisch heißt die Wirkung immer noch.
Was ist mit der Wirkung auf die Gesundheit? Sie wird jetzt anders hergeleitet. Die seit Jahrzehnten übliche Lesart besagte, gutes Licht erleichtere das Sehen. Besseres Sehen führe dazu, dass man mehr leisten kann. Wenn man mehr leisten kann, würde man beim gleichen Arbeitspensum weniger belastet. Wenn man weniger belastet ist? … ist man gesünder. Die neue Lesart sagt nunmehr, Menschen würden zu 90% ihrer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen. Konstantes Licht in solchen Umgebungen würde den circadianen Rhythmus stören. Wenn der circadiane Rhythmus gestört ist, sinkt die Leistungsbereitschaft. Bei gleichem Arbeitspensum wird man also mehr belastet. Und eine höhere Belastung ist …? Ungesund!
Warum denn so umständlich?
Man wundert sich, warum man heute nicht einfach bestimmte Wirkungen feststellen und diese reklamieren kann wie einst General Pleasonton, wo wir doch viel mehr wissen und effektiver forschen können. Dummerweise hindert uns gerade das bessere Wissen daran, forsch irgendwelche Behauptungen aufzustellen und beobachtete Wirkungen schnell als Realität anzusehen. Das aber ist nicht der wesentliche Grund.
Das größte Hindernis für die Forschenden besteht darin, dass sie nicht mit Menschen experimentieren dürfen. Heute gelten selbst klassische Experimente der Psychologie als verpönt, auch wenn sie einem guten Zweck dienen sollten.25Gemeint sind Experimente wie das Milgram-Experiment. Dieses ist in 1961 in New Haven durchgeführtes psychologisches Experiment, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen. Der Versuch bestand darin, dass ein „Lehrer“ nach Anweisungen eines „Versuchsleiters“ einem „Schüler“ bei Fehlern elektrische Schläge versetzen und deren Intensität nach jedem weiteren Fehler erhöhen sollte. Sowohl die „Versuchsleiter“ als auch die „Schüler“ waren Schauspieler und die Stromschläge erfolgten nicht real. Dies blieb den eigentlichen Versuchspersonen, den „Lehrern“, jedoch verborgen, so dass sie davon ausgehen mussten, den „Schülern“ echte Schmerzen zuzufügen. Das Milgram-Experiment sollte ursprünglich dazu dienen, Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus sozialpsychologisch zu erklären. Wenn ein Experiment gar die Gesundheit betrifft, gelten noch strengere Fesseln. In den USA muss zu jedem medizinischen Experiment, an dem Menschen beteiligt werden sollen, der Zweck und die Methode vorab veröffentlicht werden. Zu urteilen, was dabei ethisch vertretbar ist, obliegt nicht den Forschenden. Und das ist gut so.
Da bei allen Experimenten zu Wirkungen von Licht auf den Menschen die Frage einer Beeinflussung von Hormonen ansteht, melanopische Wirkungen sind immer solche, kann man in keinem Land völlig frei forschen. Und wenn man solche Wirkungen einfach außer Betracht lässt? Man wird sehr wahrscheinlich nur an der Oberfläche kratzen und nie die wahren Begebenheiten betrachten können.
Allein daraus erklärt sich aber nicht, warum man bei Lichtwirkungen eher im Dunkeln tappt. Der wichtigste Grund liegt im Forschungsgegenstand selbst. Denn Licht ist eng mit den Lebensvorgängen verbunden, und das Auge ist das bestgeschützte Organ des Menschen. Was man bei praktisch allen Muskeln feststellen kann, Ermüdung, lässt sich am Auge nur um drei Ecken über Vermutungen ermitteln. Die erbrachte Arbeitsleistung des Menschen, die zweifelsohne mit Sehen verbunden ist, lässt sich nicht einmal über drei Ecken mit der Sehleistung in eine Beziehung bringen.
Allein Licht so zu messen, dass der Messwert einer physiologischen Wirkung entspricht, ist ein hartes Stück Arbeit. Denn keine der üblichen lichttechnischen Größen misst etwas, das eine physiologische Wirkung erklären hilft. Allein die Mühe eine „melanopische“ Beleuchtungsstärke zu berechnen, fällt den meisten schwer.
Nehmen wir hypothetisch an, Forschende eines Projekts hätten alle Hindernisse umschifft und festgestellt, bestimmte Merkmale einer Beleuchtung würden über eine Beeinflussung physiologischer Vorgänge, außer gutes Sehen, eine höhere Arbeitsleistung ermöglichen. Wie wahrscheinlich wäre es, dass diese Erkenntnis in der Arbeitswelt angewendet wird? Zumindest in der EU dürfen nur die Staaten so etwas regeln. Deswegen dürfen weder lichttechnische noch ergonomische Normen Grenzwerte zu Umweltbedingungen aufstellen, die mit der Sicherheit und Gesundheit von Arbeitenden zu tun haben.
Und wenn einzelne Staaten zu der Überzeugung kämen, man müsste die Lichtverhältnisse i.S. melanopischer Wirkungen verbessern? Als Antwort reicht ein Blick auf die Rechtslage. In den 1990er Jahren wollte eine CIE-Kommission feststellen, in welchen Ländern es Vorschriften zu Beleuchtung und Arbeitssicherheit gibt und worauf diese beruhten.26CIE 103-1993 Technical Reports, Research Notes and Reporters' Reports 103/2 Industrial Lighting and Safety at Work: The task of TC 3-05 "Industrial Lighting and Safety at Work" was to collect information about national rules and recommendations, to analyse the factors of lighting influencing safety at work and to give guidance on techniques for the achievement of those parameters. Man verschickte einen Fragebogen mit zwei Faktoren:
- A: Gibt es nationale Regeln und Vorschriften?
- B: Gibt es Forschungsarbeiten zu Licht als Unfallursache, auf denen die nationalen Regeln beruhten?
Zu Teil A antworteten 14 Länder, sie hätten nationale Vorschriften oder Regeln. Niemand wollte aber angeben, auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen diese beruhten. Der deutsche Teilnehmer dieser Kommission, Vertreter einer Berufsgenossenschaft, finanzierte später Forschungsarbeiten, die wenig Brauchbares erbrachten. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil bei Arbeitsunfällen kaum jemand brauchbare Daten zu Beleuchtung erheben kann. Zudem beteiligen sich bei solche Kommissionen meistens Mitarbeiter von Lichtherstellern, deren Interesse dem einzigen relativ leicht messbaren Größe gilt: Beleuchtungsstärke. Und nicht einmal diese Größe kann man leicht bewerten, weil Unfälle eher durch eine falsche Lichtrichtung als die Menge des Lichts entstehen können. Man müsste dazu die Richtung des Lichts am Unfallort zur Unfallzeit messen. Mir sind aber nur wenige Leute bekannt, die bei Unfällen etwa die Lichtrichtung messen. Den meisten ist nicht einmal bewusst, dass das Licht immer eine Richtung hat.
Diejenigen Länder, die Bauvorschriften haben, die die Beleuchtung berühren, dürften viel mehr als nur 14 sein. Wie die Geschichte der Städte, die in diesem Buch behandelt werden, zeigt, waren Architekten, Sozialreformer, Stadtplaner u.ä. an deren Entstehung beteiligt. Daher kann man berechtigterweise vermuten, dass es in mehr als nur 14 Ländern entsprechende Bauvorschriften gibt. Allein in Deutschland gibt es 16 Landesbauordnungen. Diese bestimmen die Tageslichtsituation in erheblichem Maße. Wenn Licht als Unfallursache in Frage kommt, müsste daher auch das Zusammenspiel der elektrischen und der künstlichen Beleuchtung ermittelt werden. So etwas ist bereits technisch sehr aufwändig, wenn überhaupt möglich. Man denke daran, dass die künstliche Beleuchtung von Arbeitsstätten seit 1935 getrennt von der natürlichen genormt wird.
Der Computer, das unbekannte Wesen
In all diesen Betrachtungen spielt der Computer keine Rolle. Sollte er? Aus zweierlei Gründen muss er sogar:
- Praktisch alle Computer werden über einen Bildschirm benutzt, der eine Lichtquelle ist. Diese Lichtquelle befindet sich während der gesamten Arbeit direkt vor den Augen, während die Lichtquellen möglichst so platziert werden, dass sie nicht blenden, also weg aus dem Gesichtsfeld. Wenn das Blaue im Licht bedeutsam ist, ist der Bildschirm möglicherweise wirksamer als die Lampen, weil keine Lampe, die zur Beleuchtung benutzt wird, eine höhere Farbtemperatur haben dürfte. So gelten Lampen mit einer Farbtemperatur von 5000 K als „blauangereichert“, die aus Sicht der melanopischen Wirkung bevorzugtes Licht besitzt eine Farbtemperatur von 6500 K, während der übliche Bildschirm mit 9300 K ausgeliefert wird. Es gibt sogar Bildschirme mit 11000 K.27Daten aus ISO/TR 9241-610:2022 Impact of light and lighting on users of interactive systems
- Bildschirme stellt man auf fast allen Arbeitsplätzen senkrecht auf. Das bedeutet, dass die Beleuchtung auf ihnen stark zunimmt, wenn man diese so gestaltet, dass sie eine möglichst hohe vertikale Komponente hat. Weißes Licht auf einem Bildschirm bedeutet immer eine Beeinträchtigung. Diese kann eine Spiegelung bedeuten, was zu einer sichtbaren Störung führt. Viel schlimmer wirkt sich aber der Verlust an Farben aus. Menschen in der grafischen Industrie sind hiervon ebenso betroffen wie z.B. Fluglotsen. Erst gefährlich wird es bei medizinischen Geräten, wenn der Kontrast geringer wird. Eine falsche Interpretation eines Röntgenbilds könnte für den Patienten tödlich ausgehen. In Schaltwarten kann eine falsche Ablesung sogar die öffentliche Sicherheit beeinträchtigen.
Die Lichtwelt hat den Computer zwar entdeckt, behandelt ihn als eine Bagatelle, wenn es um die Regeln für die Beleuchtung geht. Ich rede nicht vom Jahr 1970, sondern 2020 und später. Anfang der 1970er Jahre stellten Ergonomen erstaunt fest, dass die Bildschirmen von Computern neben Daten auch die ganze Umgebung zeigten. Sie empfahlen, die Räume mit Bildschirmen zu verdunkeln, damit man etwas darauf erkennen kann.28Hultgren, G. V., & Knave, B. (1974). Discomfort glare and disturbances from light reflections in an office landscape with CRT display terminals. Applied Ergonomics, 5(l), 2–8. https://doi.org/10.1016/0003-6870(74)90251-8 Mir kam das wie ein Todesstoß für die Computertechnik vor. Ich wies nach, dass sich die Autoren beim Messen vertan hatten und empfahl, man solle die Beleuchtung behalten und dafür für bessere Bildschirme sorgen. Die gab es damals nämlich bereits.29Çakir, A.; Reuter; H.-J.; V. Schmude, L.; Armbruster, A., Anpassung von Bildschirmarbeitsplätzen an die physische und psychische Funktionsweise des Menschen, Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bonn, 1978 Man müsste nur die richtigen Modelle aussuchen. Sie müssten möglichst robust auf Umgebungslicht reagieren.
Diese Lösung kam der deutschen Lichttechnik zu einfach vor. Eher geschäftsschädigend. Man könnte doch … aus dem Problem ein Geschäft entwickeln, oder? So kam es zur „Erfindung“ der bildschirmgerechten Beleuchtung mit passenden Leuchten – Bildschirmarbeitsplatzleuchte (BAP). Diese existierten aber schon längst, nur der Name war neu. Und deren Wirkung auf den Menschen hatte sich als schlimm herausgestellt. Da die Decke nunmehr der dunkelste Teil der Räume geworden war, hatten die Benutzer das Gefühl, dass sie ihnen auf den Kopf fiele. Das ficht die Erfinder nicht an. Sie meinten, dass eine tiefstrahlende Leuchte wäre genau das, worauf die Menschheit gewartet hatte. Mit dem Namen BAP, eine Schöpfung vom Marketing, machte die Leuchte richtig Geld. Allerdings nicht alle, denn manche Firmen konnten die Leuchten nicht so gut entspiegeln wie andere.
Für den Einsatz erfand man schnell zwei Arbeitsplatztypen, den Bildschirmarbeitsplatz und den Büroarbeitsplatz mit Bildschirmunterstützung. Für den ersten Typ würde man unbedingt die BAP-Leuchten brauchen, für die anderen reichten weniger entspiegelte. Diese Erfindung aus dem Jahre 1979 lebt nun in der europäischen Beleuchtungsnorm EN 12464-1 vom Jahr 2021 fort. Die Daten der „Entspiegelung“ stammen noch aus einem Laborversuch aus 1978.30Hentschel, H.-J.; Roll, K.-F.; Leibig, J. et al: Anforderungen an eine zeitgerechte Beleuchtung, Licht, 6/1984 und 7/1984 , S. 462-467 und 494-497
Man nehme an, der Versuch hätte tatsächlich eine Möglichkeit aufgezeigt, die künstliche Beleuchtung des Raumes so zu gestalten, dass der Benutzer die Lampen nicht in seinem Bildschirm sieht. Was macht dieser am Tage mit der Tageslichtbeleuchtung? Diese wird in vielen Fällen von März bis September allein benutzt, den Rest des Jahres stets mehr als zur Hälfte der Zeit. Während dieser Zeiten reflektieren die Bildschirme nicht nur die Fenster, sondern auch Wände und vor allem den Benutzer. Die Lichttechnik hat dazu unglaubliche Lösungen gefunden. Man solle alle Teile der Räume, die man in den Bildschirmen sehen könnte, dunkel anstreichen (DIN 5035-7). Es gab auch eine Empfehlung, eine dunkle Kleidung zu tragen: „Auch helle Oberbekleidung kann zu störenden Spiegelungen auf dem Bildschirm führen.“31Die Empfehlung, eine dunkle Kleidung zu tragen, steht in DIN 5035-7:1988 unter „Lichttechnische Anforderungen – Leuchtdichteverteilung im Raum und Gestaltung der Oberflächen“ Man normte wissenschaftlich aussehende Methoden zur „Optimierung des Systems Beleuchtung – Arbeitsplatz – Bildschirm“, die allerdings weder die Autoren verstanden hatten noch die Lichtplaner hätten jemals verstehen können. Sie bezogen nicht nur die Beleuchtung ein, sondern auch die Bildschirmkrümmung und -neigung, den Abstand zum Benutzer und auch die Augenhöhe.32Das zitierte Bild stammt aus DIN 5035-7:1988 Die Legende des Bildes umfasst 10 Posten. Wenn man dieses Bild verstanden hätte, müsste man noch zwei komplexe Nomogramme entziffern müssen, um die richtige Lichtausstrahlung der Leuchte bei einem gegebenen Blickwinkel zur obersten Zeile bei einer gegebenen Bildschirmneigung zu erhalten. Die tolle Optimierung wäre indes futsch, wenn ein anderer Benutzer an den Tisch kommt oder der Besitzer lieber im Stehen arbeiten will oder soll.
Nichts gegen nachhaltige Studien, die so gründlich durchgeführt worden sind, dass man mit ihren Erkenntnissen lange leben kann. Das war es leider nicht. Die Lichttechnik hat vielmehr nicht realisiert, dass ihre Konzepte im Computerzeitalter alt aussehen. Sie sprach im Jahre 2021 von Sehleistung und meinte damit nicht die auf dem Bildschirm, sondern auf dem Papier, wo es schon über 20 Jahre papierlose Arbeitsplätze im Büro gibt.33Das papierlose Büro ist seit seiner Erfindung in den 1970er Jahren eine Art running gag, weil die Computerisierung zu einem höheren Papierausstoß geführt hatte. Unser Institut hat aber bereits 1996 Arbeitsplätze und Bildschirme für ein papierlos arbeitendes Büro ausgesucht und eingerichtet. Es hat bereits ein Jahr zuvor funktioniert. Die ersten Schritte in Deutschland wurden bereits Ende der 1980er Jahre getan, um das Dokumenten Management zu realisieren. Heute redet keiner mehr davon, es funktioniert seit langem. Viel schlimmer noch, die Anforderungen, die an die Beleuchtung gestellt werden, führen dazu, dass das Sehen auf dem Bildschirm verschlechtert wird. Hierzu gehört auch der Wunsch nach melanopisch wirksamer Beleuchtung. Die Norm DIN EN 12464-1 stellt für jeden Arbeitsplatztyp acht verschiedene Anforderungen für die Beleuchtung und empfiehlt für die computerisierten Arbeitsplätze zusätzlich, die Anforderungen einer ISO-Norm (ISO 9241.307) zu erfüllen, die für Bildschirme gelten sollen. In dieser Norm stehen aber keine Anforderungen.34DIN EN 12464-1 Licht und Beleuchtung - Beleuchtung von Arbeitsstätten - Teil 1: Arbeitsstätten in Innenräumen; Deutsche Fassung EN 12464-1:2021 Ausgabe 2021-11: Die Norm enthält eine getrennte Bestimmung „Beleuchtung von Bildschirmarbeitsplätzen (en: Display Screen Equipment, DSE)“, in der nur Grenzen für die Leuchtdichte der Lichtausstrahlung angegeben werden. Dazu wird empfohlen „EN ISO 9241-307 enthält Anforderungen an die visuellen Eigenschaften von Displays bezüglich unerwünschter Reflexionen.“ EN ISO 9241-307 ist eine Messnorm und kann keine Anforderungen enthalten.
Hingegen hat der deutsche Staat seine Vorschriften, die für solche Arbeitsplätze galten (Bildschirmarbeitsverordnung) schon vor 9 Jahren abgeschafft, weil praktisch in jeder Arbeitsstätte mindestens die Hälfte der Arbeitsplätze dazu gehört.
Die jüngste Norm zur Beleuchtung bleibt in ihrem Konzept weit hinter einer Arbeitsschutzvorschrift von 1980 zurück, die damals davon ausgehend erstellt wurde, dass künftig alle Arbeitsplätze Kandidaten für eine Computerisierung wären. Da man nicht alle Tage die Beleuchtung austauschen kann, sollte bei jeder Neuplanung Ziel sein, die Räume für einen optimalen Computereinsatz zu gestalten.35Gemeint ist die “Sicherheitsregeln für Bildschirm Arbeitsplätze im Bürobereich“ ZH1/618 vom Jahr 1980.
Fluch der einseitigen Sicht
Ob Blau schlau macht oder gesund, werden wir vermutlich kaum zuverlässig beantworten können, denn die Helfer der elektrischen Sonne, die sie zum Zenit getragen haben, zeigen bisher nur geringes Interesse an einer ganzheitlichen Denkweise. Hat man sich fast ein Jahrhundert lang auf die Sehleistung kapriziert, freilich ohne diese zu definieren, wiederholt man jetzt den Fehler, indem man nur sichtbares Licht betrachtet und davon nur die circadianen Wirkungen, die über das Auge vermittelt werden. Der Fehler beginnt mit der Benennung des Gegenstandes: nicht-visuelle Wirkungen. Diese stehen aber nicht im Mittelpunkt, sondern nur solche Wirkungen, die über das Auge vermittelt werden, wenn dieses kein Bild erzeugt.
Und die Einseitigkeit geht mit dem Objekt der Betrachtung weiter: ausschließlich Licht. Es ist aber seit Jahrhunderten mehr oder weniger genau bekannt, dass Menschen von der optischen Strahlung beeinflusst werden, also sichtbare Strahlung, Ultraviolett und Infrarot. Gerade diejenigen Teile des Spektrums, die jetzt außer Acht gelassen werden, UV und IR, werden aber für vielfältige medizinische Therapien eingesetzt, Infrarot sogar auch von Laien. Gelten die etwa deswegen nicht im Alltag, wenn man Beleuchtung zum Sehen produziert? Es kommt mir wie eine Unterscheidung von Heilkräutern und Gemüse vor. Wenn man Heilkräuter als Essen zubereitet, bleibt die medizinische Wirkung etwa aus? Und wenn man Gemüse isst, kann man eine heilsame Wirkung etwa ausschließen, weil man diese gerade nicht beabsichtigt hat?
Eine unüberschaubare Menge von heutiger Literatur bezieht sich auf eine Wirkung des Lichts: circadiane Wirkungen. Mag sein, dass man damit etwas erreichen kann. Die Wahrheit aber ist, dass erstens Licht mehrere Wirkungen daneben hat, und zweitens dass neben Licht eine Reihe Faktoren die circadiane Rhythmik bestimmen, z.B. Nahrungsaufnahme, Temperaturänderungen, soziale Ereignisse u.ä. Der Forschende, der das Licht in dieser Frage auf den Schild gehoben hat, Aschoff, hat die anderen Faktoren mitbenannt als soziale Zeitgeber. Laut Aschoff wie auch anderen Autoren, ist Licht zwar der wichtigste Zeitgeber. Es ist aber nicht der alleinige. Man kann bei einer Suche mit dem Stichwort „circadiane Rhythmik“ Tausende von Artikeln und Büchern finden, wenn der Suchbegriff aber „soziale Zeitgeber“ heißt, tauchen keine 100 auf, vor allem keine aus der Lichttechnik.
Der vermutlich der größte Mangel im Wissen um das Licht und körperliche Rhythmen ist die Ausklammerung des Jahresrhythmus. Dahinter verbirgt sich mehr als nur ein blaues Wunder. Als ich bei einen Normungsvorhaben zu dem Thema das Wort „circarhythm“ benutzt hatte, was die täglichen und jährlichen Rhythmen gemeinsam bezeichnet, verlangten die CIE-Experten, dieser Begriff müsse aus dem Manuskript gestrichen werden, weil es das nicht gäbe. Ich solle nur bekannte Begriffe benutzen.36Hier ging es um ISO/TR 9241-610:2022 Ergonomics of human-system interaction — Part 610: Impact of light and lighting on users of interactive systems. Der Einspruch gegen das Wort circannual kam von ISO/TC 274: „The word “circarhythm” is infrequently used and will be misunderstood by most readers.” (Das Wort „circarhythm“ wird selten benutzt und wird von den meisten Lesern missverstanden werden.) Es wurde verlangt, das Wort in circadian zu ändern. Man darf sich über das Ansinnen nur wundern, weil das Wort aus einem CIE-Report stammte, und der Widerspruch von einer kanadischen Wissenschaftlerin formuliert worden war, die die kommende Präsidentin der CIE war.
Was für ein Problem ist damit verbunden, wenn man den Tagesrhythmus von Hormonen betrachtet und den Jahresrhythmus weglässt? In der Natur gibt es äußerst wenige Flecken Erde, in der es überhaupt keine jahreszeitlichen Änderungen gibt. Selbst in vielen tropischen Ländern ändert sich die Natur über das Jahr, tropische Wirbelstürme finden immer im Herbst statt. Der Monsun, eine saisonale Wetterlage, in Südasien trifft auch mehrere tropische Länder. Mit zunehmender geographischer Höhe werden die Ausprägungen der Jahreszeiten unterschiedlicher, die Unterschiede größer. Wenn jemand sich zum Ziel setzt, Tagesrhythmen des menschlichen Körpers zu beeinflussen bzw. das künstliche Licht den Tagesrhythmen anzupassen, darf er die jahreszeitlichen Änderungen des natürlichen Lichts außer Acht lassen? Eigentlich eine unsinnige Frage. Unser gesamtes soziales Leben hängt von den Jahreszeiten ab. Wir halten zwar keinen Winterschlaf, setzen aber schon Winterspeck an. Wir feiern den Totensonntag nicht zum 1. Mai. Der Heißhunger auf bestimmte Kost hängt von der Jahreszeit ab.
Was passiert, wenn man die Jahreszeiten außer Acht lässt? Das ist keine fiktive Frage mehr, seit führende Chronobiologen eine Empfehlung für die melanopisch wirksame Beleuchtung veröffentlicht haben.37Brown TM, Brainard GC, Cajochen C, Czeisler CA, Hanifin JP, Lockley SW, et al. (2022) Recommendations for daytime, evening, and nighttime indoor light exposure to best support physiology, sleep, and wakefulness in healthy adults. PLoS Biol 20(3): e3001571. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3001571 Diese beruht auf einer neuartigen Berechnung der Beleuchtungsstärke auf der Basis der melanopischen Wirkung (mel-EDI = melanopisches Tageslichtäquivalent). Demnach sollte in der gesamten Wachzeit zwischen 06:00 Uhr und 19:00 Uhr die Beleuchtungsstärke am Auge über 250 lx liegen. Wenn sich der Körper auf den Schlaf vorbereiten soll, also zwischen 19:00 Uhr und 22:00 Uhr, darf sie nicht mehr als 10 lx betragen. Die ganze Nacht muss es dann dunkel sein.
Diesem Regime können Menschen, die am Äquator leben, schon folgen, so sie abends weder arbeiten wollen noch irgend eine soziale Aktivität entfalten. Bereits nördlich des Mittelmeers, also Griechenland bis Spanien, wird es schwer. Denn am Abend um 19:00 Uhr herum finden dort die intensivsten sozialen Aktivitäten im Freien statt (italienisch Piazza). Außerdem kommt der Tag vor 06:00 Uhr morgens und ist um 19:00 abends immer noch da. Es sei denn, es ist Winter. Die Mittel- und Nordeuropäer werden die Sache noch skeptischer Sehen. In Deutschland (Hamburg) geht die Sonne um 04:50 Uhr auf, und der Tag dauert 17,05 Stunden (Sommersonnenwende). So geht die Sonne erst 21:53 Uhr unter. Im äußersten Osten von Deutschland findet das Ganze jeweils etwa 45 Minuten früher statt. Innerhalb von Deutschland unterscheidet sich zum gleichen Datum die Dauer eines lichten Tags in der Nord-Süd-Richtung um bis zu fast eineinhalb Stunden. Die vier Orte des deutschen Zipfelbundes, also der äußersten Gemeinden von der Mitte aus, gehören zwar zu Deutschland, und die Uhren stehen an allen vier Orten immer gleich. Die physiologische Zeit in Oberstdorf im Süden und Görlitz im Nordosten könnte aber nicht unterschiedlicher sein.
Welchen Sonnentag simuliert die so wissenschaftlich ausgetüftelte elektrische Sonne? Was machen Menschen, die nach Sonnenuntergang arbeiten müssen oder wollen? Genügt es, einen „gesunden“ Tag zu programmieren, der nur außerhalb der Arbeitswelt gilt?
Lassen wir die Fragen einfach offen. Wer will, kann ja durch Lampen und Vorhänge sich einen lichten Tag programmieren. Die Frage ist dann, ob dies tatsächlich seiner Gesundheit dient. Dieser Tag ist im Sommer 4 h kürzer als der lichte Sonnentag (Sommersonnenwende) und im Winter fast doppelt so lang (Norddeutschland). Wir verlängern damit den Tag im Winter und verkürzen ihn im Sommer. Das soll physiologisch nützlich sein?
Bei Hühnern verlängert man den Tag tatsächlich, damit sie mehr Eier legen. Dafür sterben sie früher. Bei Pflanzen bedeutet die Länge des Tages Unterschiedliches für Langtag- und Kurztagpflanzen. Sind Menschen denn immun gegen Umweltwirkungen, die bei Pflanzen und Tieren nachweislich das Verhalten bestimmen? Wenn ja: Warum muss man ausgerechnet deren Tagesrhythmik mit einem riesigen Aufwand beeinflussen? Denn die harmlos aussehende Zahl von 250 lx mel-EDI bedeutet, dass man die installierte Beleuchtung mindestens verdreifacht. Dies gilt auch nur, wenn man bereit ist, eine Lichtfarbe zu akzeptieren, die der größte Teil der Menschen in Deutschland als kalt empfindet. Will jemand gar „warmes“ Licht in seiner Umgebung, genügt das Verdreifachen nicht.38Die Berechnung der melanopischen Beleuchtungsstärke geht davon aus, dass nur das Licht zählt, das ins Auge eintritt. Bei einer Beleuchtung von oben entspricht dies etwa einem Drittel der geplanten Beleuchtungsstärke, also rund 160 lx bei 500 lx Planwert. Dieser Wert würde bei einer Lichtfarbe mit einer Farbtemperatur von 6500 K und einem Menschen mit 32 Jahren als 160 lx mel-EDI gelten. Da aber kaum eine Beleuchtung diese Farbtemperatur hat, muss umgerechnet werden. Eine Lampe mit 2700K (Glühlampe, LED) ergibt sich etwa 67 melanopische Lux. Für ältere Menschen muss ebenfalls eine Korrektur erfolgen. Der Korrekturfaktor beträgt 0,857 (50 Jahre) bzw. 0,641 (75) Jahre. D.h., eine Beleuchtung mit 500 lx ergibt eine melanopische EDI von ganzen 57,7 lx für einen 50-jährigen Menschen. Will man mindestens 250 lx mel-EDI erreichen, müsste die Beleuchtungsstärke etwa verfünffacht werden. Wenn die Lampe eine Farbtemperatur von 4000 K hat (neutral weiß) sind das 80 lx mel-EDI.
Hingegen liefert der in all diesen Überlegungen kaum berücksichtigte Computer über 70 mel-EDI.39Die Zahl 70 lx mel-EDI stammt aus Brown TM et al. Sie gilt vermutlich für einen Bildschirm. Im Vergleich zu der melanopischen Beleuchtungsstärke von 57,7 lx bis 80 lx einer üblichen Beleuchtung ist sie ebenbürtig. D.h., der Bildschirm trägt etwa so viel zur Melatoninbeeinflussung bei wie die Beleuchtung. Und das auch in den Abendstunden, wenn die Wirkung eher schädlich sein soll. Dies entspricht dem Beitrag der Beleuchtung. Während man ab 19:00 Uhr möglichst wenig beleuchten soll, damit sich der Körper auf den Schlaf vorbereiten kann, strahlt der Computer munter weiter. Wie man damit umgehen soll, verraten die Helfer der elektrischen Sonne nicht. Dass die Computer der großen Firmen bei Dienstschluss abgeschaltet wurden, gehört in die Frühgeschichte der EDV. Im IT-Zeitalter laufen sie einfach weiter. Und viele Menschen fängt die intensivere Computernutzung erst nach der Arbeit an. Die Internet-Server sind etwa zu 99,9% der Zeit verfügbar.
Die elektrische Sonne lässt sich zwar beliebig an- und ausknipsen. Ihre Wirkungen hängen aber davon ab, wo die natürliche Sonne steht. Sie bestimmt mit Sicherheit die Tages- und Jahresrhythmen des Lebens, aber vermutlich nicht nur diese. So hat der Bambus einen Lebenszyklus von 52 bis 90 Jahren. Hingegen haben Teile unseres Körpers auch Rhythmen, die viel kürzer sind als ein einziger Tag. Können wir ohne Berücksichtigung von all diesen und einfach daran machen, die circadianen Rhythmen zu beeinflussen? Mir kommt da der Blau-Wahn von Gen. Pleasonton wie ein Kinderspiel vor.