Kompensation statt Kapitulation – Eine kurze Geschichte der Sichtverbindung nach außen

Damit das Licht so hell scheint,
muss die Dunkelheit vorhanden sein.

Francis Bacon

Wie wichtig Licht für das Zusammenleben in Deutschland ist, lässt sich auch daran messen, dass selbst Juristen in politischen Spitzenpositionen übergeordnete Rechtsprinzipien vergessen, wenn es um eine bestimmte Vorschrift geht, um § 7 Absatz 1 der Arbeitsstättenverordnung von 1975. Sie hört sich eigentlich harmlos an:

Arbeits-, Pausen-, Bereitschafts-, Liege- und Sanitätsräume müssen eine Sichtverbindung nach außen haben.“

Um diese wurde lange gekämpft, weil zu dem Zeitpunkt der Erstellung der Vorschrift die Lichttechnik wie die Arbeitsmedizin der Meinung waren, Arbeitsräume müssten überhaupt keine Fenster haben. Das Licht könne man besser elektrisch erzeugen. Ein gewisser Matthew Luckiesh hatte 50 Jahre zuvor postuliert, man könne sogar besseres Licht erzeugen als die Sonne es je können wird (hier)

Den Stadtplanern und Immobilienhändlern ging es eher um die Verdichtung der Städte. Wenn man Arbeitsstätten ohne Fenster bauen darf, kann man kompakter bauen. Wie dies einst ausgesehen hatte (hier  Krankheiten der Finsternis) war längst vergessen, obwohl die Häuser noch stehen.

Den Arbeitgebern ging es eher darum, eine Vorschrift abzuwehren, die sie nicht immer erfüllen konnten. Was tun?

Heutige Regelungen im Arbeitsschutz weichen in einem Punkt wesentlich von ihren Vorgängern ab. Wenn ein notwendiges Schutzziel nicht erreicht werden kann, wird alternativ ein Ausgleich vorgegeben.

Dies war zu Zeiten der ehemaligen Begründung des Arbeitsschutzes anders. Historisch gesehen war die Gewerbeordnung die zentrale gesetzliche Grundlage für den frühen Arbeitsschutz: Der frühe Arbeitsschutz beruhte insbesondere auf dem § 120 der Gewerbeordnung (GewO) in seiner historischen Fassung. Er diente als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Verordnungen zur näheren Regelung des Arbeitsschutzes, so auch für die Arbeitsstättenverordnung. Diese verpflichtete den Arbeitgeber zu bestimmten Maßnahmen, ließ aber offen, was zu tun sei, wenn dieser eine bestimmte Maßnahme nicht realisieren kann. So heißt es bezüglich Lärm (§ 15): „In Arbeitsräumen ist der Schallpegel so niedrig zu halten, wie es nach Art des Betriebes möglich ist.“ Was ist, wenn es nicht möglich ist?

So gab es in der ArbStättV zwar auch die Vorschrift, dass alle Arbeitsplätze eine Sichtverbindung nach außen haben müssen, aber bestimmte Gewerbe können diese nicht realisieren, weil die Arbeitsbedingungen sie nicht zulassen. Bestes Beispiel: Fotolabor. Sichtverbindung herstellen würde die Tätigkeit dort nicht ausführbar machen. So schrieb man die Ausnahme in die Vorschrift oder in den Kommentar. Gut war es damit.

Mir wurden im Laufe der Jahre mehrere Tätigkeiten bekannt, bei denen es zwingende Gründe dafür gab, auf die Sichtverbindung zu verzichten. So etwa beim Bundeszentralregister, bei dem die Arbeitsplätze gegen Maschinengewehrfeuer geschützt sein müssen. Später wurde es noch ernster. Auch die Warten von Kernkraftwerken sind schätzenswert (gewesen) auch gegen Flugzeugabstürze. Was ist, wenn dort die Sichtverbindung nach außen fehlt?

Die Konsequenz ist, dass die Mitarbeiter (alle männlich) ihren circadianen Rhythmus verfehlen. Das wäre nicht ratsam wegen der Sicherheit der Arbeit für die Betroffenen und der Gesellschaft allgemein. Zudem hatten Gutachter, die die Katastrophe von Three Mile Island analysiert hatten, empfohlen, die Beleuchtungsstärke kräftig zu erhöhen, damit die Mannschaften bei der langweiligen Arbeit nicht wegdösen*.

*Kein Scherz. Die amerikanische Aufsichtsbehörde hat es mal geschafft, in ein gut geschütztes AKW einzudringen und die ganze Mannschaft beim Schlafen zu erwischen. Das Werk wurde abgemahnt.  Eine Weile danach wiederholte sich der Vorgang.

Was tun? So haben wir als Gutachter die Rolle der Sichtverbindung nach außen wiederholt analysiert. Wenn das Wichtigste darin besteht, dass der Mensch seinen Tagesrhythmus beibehält, lässt sich das Ziel auch damit erreichen, dass man die Verbindung zum Tag zeitweilig herstellt. So habe ich dem betroffenen Betrieb zur Auflage gemacht, die Pausenräume und die Kantine mit viel Tageslicht auszustatten. Das war 1987 und der Beginn der Vorstellung, wie man heute mit nicht erreichbaren Zielen im Arbeitsschutz umgeht. Einen Ausgleich für nicht realisierbare Schutzmaßnahmen schaffen.

Wie kommt man aber auf eine solche Idee? Ob man glaubt oder nicht, sie steht wörtlich geschrieben in der ArbStättV von 1975: § 4 Ausnahmen besagt, dass die zuständige Behörde eine Ausnahme erlassen kann, wenn … der Arbeitgeber eine andere, ebenso wirksame Maßnahme trifft …

Die ArbStättV ist aber nicht die Quelle der Weisheit. Sie ist viel älter und ist ein übergeordneter Grundsatz des deutschen Rechts. Niemand muss eine Vorschrift erfüllen, wenn er das gleiche Ziel mit anderen Maßnahmen erreichen kann. Dieses Prinzip müsste jeder befolgen, der Arbeitsschutz betreibt. Da man aber mittlerweile weiß, dass selbst Juristen dabei scheitern und fragen: „Wo steht das geschrieben?“, schreibt der Arbeitsminister in jede von ihm veröffentlichte ASR (Technische Regeln für Arbeitsstätten): „Bei Einhaltung der Technischen Regeln kann der Arbeitgeber insoweit davon ausgehen, dass die entsprechenden Anforderungen der Verordnung erfüllt sind. Wählt der Arbeitgeber eine andere Lösung, muss er damit mindestens die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz für die Beschäftigten erreichen“. Dieser Satz ist eigentlich vollkommen überflüssig. Er wird aber in jeder ASR stehen, weil Leute die wichtigsten Grundsätze immer wieder vergessen.

So hatten zwei sehr wichtige Politiker die Sache mit der Sichtverbindung auch vergessen. Sie schufen sie aus der ArbStättV in 2004. Die Herren hießen Clement und Stoiber. Der Erstere war für den Arbeitsschutz zuständig, als es das einzige Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland keinen Arbeitsminister gab. In dieser Zeit wurden die Zuständigkeiten des bisherigen "Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung" auf andere Ministerien aufgeteilt:

  • Der Bereich Arbeit (Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsrecht) wurde in das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit integriert.
  • Der Bereich Soziales (Sozialversicherung, Rente) wurde in das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung integriert.

Der Super-Minister für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement wollte auch die ArbStättV „deregulieren“ und schaffte die Vorschrift einfach ab. Sein Gehilfe Stoiber war damals der Ministerpräsident von Bayern und wollte die Arbeitsstättenverordnung als Bundesgesetz ohnehin komplett loswerden. So kam es, dass eine allgemein gesicherte Erkenntnis aus einem Gesetz verschwand. Was die beiden Herren aber nicht bedacht haben, ist, dass solche Erkenntnisse gültig bleiben, auch wenn kein einziges Gesetz sie enthält. Auch das ist ein übergeordneter juristischer Grundsatz.

So kehrte die Sichtverbindung 2014 in die Arbeitsstättenverordnung zurück (hier) und verursachte Unglaubliches. Der Kanzleramtsminister kassierte den vom Parlament und vom Bundesrat abgesegneten Entwurf und hielt ihn zwei Jahre lang unter Verschluss. Anlass war eine Kampagne des Präsidenten der Deutschen Arbeitgeberverbände. Dieser behauptete, die ArbStättV würde für Toiletten eine Sichtverbindung nach außen vorschreiben.

Ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse. Zwar hatte derselbe Passus bereits 1975 in der ersten Fassung der ArbStättV gestanden (s. Zitat ganz oben in diesem Beitrag). Aber wer liest schon alte Vorschriften.

Die Sache endete 2016 durch eine Intervention des Bundesrates, die die ungesetzliche Aktion des Bundeskanzleramtes beendete. So bekam eine Gruppe, zu der auch ich angehörte, den Auftrag, die Sichtverbindung in die zuständige ASR einzuarbeiten. Die Gruppe arbeitete einvernehmlich und zügig. Als es aber dazu kam, das Ergebnis zu veröffentlichen, fielen die Arbeitgeber ihren Vertretern in den Rücken. Noch einmal zwei Jahre vergingen, bis die Sichtverbindung wieder im Amt und in Würden war. So kehrte die Sichtverbindung in voller Schönheit in die Vorschriftenwelt mit der Revision von ASR A3.4  Beleuchtung und Sichtverbindung erst im Mai 2023 zurück. (download der letzten Version)

Auch dieser letzte Akt war bedingt durch das Vergessen eines übergeordneten Grundsatzes: Impossibilium nulla obligatio est. Auf Deutsch: „Niemand wird zu Unmöglichem verpflichtet." So wäre eine Verpflichtung des Arbeitgebers, Toiletten im Betrieb mit einer Sichtverbindung auszustatten, folgenlos geblieben.

Was lange währt, wird am Ende gut. Ist es so? Ich denke ja. Jetzt gibt ein Anhang eine Entscheidungshilfe, ob die Anforderung an eine Sichtverbindung nach Nummer 3.4 Absatz 1 des Anhangs der ArbStättV für einen konkreten Raum gilt. Wenn die Anforderung für einen Raum nicht gelten sollte, erklärt ein weiterer Anhang mögliche Ausgleichsmaßnahmen bei unzureichender Sichtverbindung. Diese kopiere ich hier ein, weil viele Betriebe oder Menschen diese brauchen:

Ausgleichsmaßnahmen können eine unzureichende Sichtverbindung nicht vollständig kompensieren. Auch dort, wo Anforderungen nach Nummer 3.4 Absatz 1 Satz 2 des Anhangs der ArbStättV nicht bestehen, gilt das Minimierungsgebot. Zur Minderung der negativen Folgen des Fehlens der Sichtverbindung können folgende Maßnahmen dienen. Beispielhafte Aufzählung in Abhängigkeit der Tätigkeit:

  • Begrenzung des Aufenthalts in dem betroffenen Raum,
  • Aufgabenwechsel mit Aufgaben in Arbeitsräumen mit Sichtverbindung nach außen oder im Freien,
  • Tageslicht (z. B. durch Oberlichter, wenn Fenster nicht möglich sind),
  • regelmäßige Erholungszeiten in Räumen mit Sichtverbindung nach außen oder im Freien,
  • Kantinen mit Sichtverbindung nach außen, oder
  • Pausengestaltung in Räumen mit Sichtverbindung ins Freie oder im Freien.

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