Was wir im Überfluss haben,
wissen wir selten zu schätzen..
Lilli U. Kreßner
In dem Kapitel „ Das Phoebus-Kartell – Gerücht - Legende – Realität“ berichte ich von einem Märchen, das nicht allzu modern ist, weil es seit 100 Jahren erzählt wird. Die Erzähler sind häufig Professoren für Lichttechnik oder allgemeine Elektrotechnik. Dieses Märchen wird allerdings weit übertroffen durch eines, das die gesamte Elektrotechnikbranche erzählt. Einer der Größten des Sachgebiets, Prof. Peter Boyce, hat es im Jahr 1995 vor dem Kongress der größten lichttechnischen Gesellschaft der Welt, IESNA = Illuminating Engineering Society of Northern America präsentiert. Sein Vortrag trug den Titel „Illuminance Selection Based on Visual Performance—and other Fairy Stories“ (Von einer Bestimmung von Beleuchtungsstärken nach Sehleistung – und andere Märchen hier)
Der Artikel verwendet die Metapher „Märchen“ (Fairy Tales), um die hartnäckige, aber wissenschaftlich nicht belegte Überzeugung innerhalb der Lichttechnikbranche zu beschreiben, dass es eine einzige optimale Lichtstärke (Beleuchtungsstärke) gibt, mit der die Sehleistung für alle Menschen und Aufgaben maximiert werden kann. Die ausführliche Fassung des Themas ist im Kapitel „Legendenbildung und Märchenerzählung – Ungewöhnliche Aktivitäten für Ingenieure” dargelegt. (hier)
Die weniger ausführliche Fassung heißt: 30 Jahre später erzählt die Lichttechnik dieselbe Mär. Diesmal allerdings gebremst durch die Gesetzgebung zum Arbeitsschutz in zwei unterschiedlicher Lesart in Englisch und Deutsch. Das ist erforderlich, weil man in Deutschland die Gesetze ernst nimmt und nicht zulässt, dass Normen nur das regeln, was sie regeln dürfen. Darüber wacht eine vom Arbeitsminister eingesetzte Kommission, die KAN (Kommission Arbeitsschutz und Normung). Sie lässt nicht zu, dass private Normungsorganisationen darüber befinden, wie man die Arbeitnehmerschaft schützt.
Gleich geblieben ist der Anspruch, mit vorgeschriebenen Beleuchtungsstärken etwas für den arbeitenden Menschen zu erreichen. Dieses „etwas“ war über Jahrzehnte vornehmlich Arbeitssicherheit und etwas visueller Komfort, so jedenfalls nach der Behauptung der lichttechnischen Industrie. Seit 1990 darf aber in der EU niemand außer dem Staat Festlegungen treffen, die den Arbeitsschutz berühren. Was man in Deutschland darf, haben die Sozialpartner auf dieser Basis geregelt (Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie, Website hier). So darf eine Beleuchtungsnorm nicht behaupten, sie diene dem Arbeitsschutz.
Was macht die Norm denn, wenn sie nichts mit der Gesundheit zu tun haben darf? Sie dient dem Sehkomfort und der Sehleistung: "Dieses Dokument legt Beleuchtungsanforderungen für Menschen an Arbeitsplätzen in Innenräumen fest, die den Anforderungen an den Sehkomfort und die Sehleistung von Personen mit normalen oder auf normal korrigiertem Sehvermögen entsprechen."
Weiß jemand, was Sehkomfort ist? Leider können das nicht einmal Experten bejahen. Jeder hat zwar eine Vorstellung davon, aber niemand weiß, was er sein soll. Denn Sehkomfort ist schlicht und einfach undefiniert, obwohl sich die Lichttechnik viel Mühe macht, alle relevanten Begriffe schriftlich und in vielen Sprachen festzulegen. Nicht nur die Lichttechnik, sondern die gesamte Elektrotechnik zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre Begriffe genormt hat und das seit 1938 gepflegt bis heute (electropedia EIV 22,000 Begriffe und e-ilv, konzentriert auf 1347 Kernbegriffe der Licht- und Beleuchtungstechnik.). Aber Lichtkomfort kommt darin nicht vor.
Bleibt Sehleistung. Sie ist definiert. Allerdings so, dass niemand etwas davon ableiten kann: „Leistung des visuellen Systems, wie sie beispielsweise durch die Geschwindigkeit und der Genauigkeit gemessen wird, mit welcher eine Sehaufgabe gelöst wird." (CIE Internationales Wörterbuch der Lichttechnik, Begriff 845-09-04). Noch klarer wird die Misere bei dieser Definition: „Sehleistung - Leistung des visuellen Systems" (DIN EN 12665)
Wie leitet man aus zwei nicht definierten Zielen Anforderungen ab, die ein Lichtplaner in Technik gießen soll? Zu den Beleuchtungsstärken, die dieser realisieren soll, sagt die Norm dies aus:
„Die Werte gelten für übliche Sehbedingungen und berücksichtigen die folgenden Faktoren:
— psychophysiologische Aspekte wie Sehkomfort und Wohlbefinden;
— Anforderungen an Sehaufgaben;
— visuelle Ergonomie;
— praktische Erfahrung;
— Beitrag zur Betriebssicherheit;
— Wirtschaftlichkeit.“
Das hört sich zunächst sehr seriös an. Wenn man sich aber die einzelnen Faktoren anschaut, wird sich jeder Mensch als gebildeter Laie fragen, wie man denn Sehkomfort, einen undefinierten Begriff, mit Wohlbefinden, einem wichtigen, für Außenstehende aber recht nebulösen Gemütszustand, zusammen betrachtet und unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit zu einem Wert umwandelt.
Ein Kapitel für sich ist die visuelle Ergonomie. Davon ist in dem gesamten Normenwerk seit 1935 nie die Rede gewesen. Auch die Ergonomen wissen nichts darüber. Bekannt ist nur der Seufzer eines ehemaligen LiTG-Vorsitzenden: "Ohne die Ergonomen haben wir ganz gut leben können."
Wie oben dargestellt, ist in der Realität nicht einmal die Zielgröße objektiv fassbar. Diese Aktion wird dann für die gesamte Wirtschaft mit allen Facetten berücksichtigt und in Tabellen mit 11 Spalten gegossen. Und zwar in 61 Tabellen, die 42 Seiten füllen. Die in diesem Abschnitt besprochenen Beleuchtungsstärken bilden dabei nur eine der 11 Spalten.
An dieser Stelle sei an den Titel des Papiers von Boyce zurück erinnert: „Von einer Bestimmung von Beleuchtungsstärken nach Sehleistung – und andere Märchen“. Es handelt nämlich von der Entstehung der hier angeführten Regelwerke, die die Beleuchtung unserer Arbeitswelt festlegen.
Jetzt zu dem Jahrhundert als Länge der Märchenstunde: Die erste Tabelle mit Beleuchtungsstärken hatte ein gewisser Leffingwell 1925 publiziert. Er hatte aber zur Vorsicht geraten: „Es ist wissenschaftlich schwierig, das Problem der Bestimmung der Beleuchtungsstärke zu lösen, weil das Auge scheint für sehr unterschiedliche Intensitäten adaptierbar zu sein. Man kann bei 0,05 foot candle [0,5 lx] ebenso lesen wie bei 2,000 foot candle [etwa 20.000 lx].“ Deswegen war seine Liste mit den Tätigkeiten und den dazugehörigen Beleuchtungsstärken sehr kurz. Wie kommt man 100 Jahre später daraus auf 42 Seiten?
Es mag sein, dass die Branche bestimmte Erfahrungen gemacht hat, aus denen man eben größere Tabellen ableiten kann als 1925. Sie müsste aber gerade dann davon absehen, diesen Wust an Anforderungen zu normen. Denn ihre oberste Fachorganisation, die LiTG, seit einem Jahr Deutsche Gesellschaft für LichtTechnik und LichtGestaltung e. V., vertreibt eine Broschüre mit dem Titel „Lichtqualität - ein Prozess statt einer Kennzahl” (die LiTG-Seite mit der Vorstellung der Broschüre hier), die von zwei dominierenden Ansätzen ausgeht, und zwar nur von diesen:
- „Lichtqualität ergibt sich aus der Summe von Faktoren, die eine Lichtlösung beschreiben und in keinem Zusammenhang zur Beleuchtungsstärke stehen (Stein, Reynolds und McGuiness, 1986).“
- „Lichtqualität ist Teil eines ganzheitlichen Ansatzes, dem dann entsprochen ist, wenn die Anforderungen individueller Nutzer erfüllt sind (Veitch, Newsham, 1995, 1998, 2006, 2010).“
Vielleicht ist hilfreich, dass man zwei wichtige Personen anführt: Der Autor der LiTG-Broschüre ist derzeit Vorsitzender der LiTG. Die Autorin des zweiten Ansatzes, Jennifer Veitch, ist Präsidentin der CIE.
(mehr zu Lichtqualität und der besagten Broschüre in healthylight.de:
Lichtqualität reloaded - https://healthylight.de/lichtqualitaet-reloaded/
Lichtqualität tut not - https://healthylight.de/lichtqualitaet-tut-not/
CIE definiert Lichtqualität - Was verstehen die Leute unter Qualität? https://healthylight.de/hurra-es-gibt-lichtqualitaet-2-2/
Hurra! Es gibt Lichtqualität! - https://healthylight.de/hurra-es-gibt-lichtqualitaet/
Der lange Weg zur Lichtqualität - https://healthylight.de/der-lange-weg-zur-lichtqualitaet/
Der lange Weg zur Lichtqualität II - https://healthylight.de/der-lange-weg-zur-lichtqualitaet-2/
Der lange Weg zur Lichtqualität III - https://healthylight.de/der-lange-weg-zur-lichtqualitaet-iii/
Der lange Weg zur Lichtqualität IV - https://healthylight.de/der-lange-weg-zur-lichtqualitaet-iv/
Der lange Weg zur Lichtqualität V - https://healthylight.de/der-lange-weg-zur-lichtqualitaet-v/)
