Hawthorne Effekt und sonstige Narrative in der Lichtwelt

Die Wahrheit ist selten rein und nie einfach.

Oscar Wilde

Dieses Buch wurde anlässlich des 100. Jahrestags eines der wichtigsten Ereignisse der Lichttechnik geschrieben: der Veröffentlichung der V(λ)-Kurve. Sie ermöglichte die Quantifizierung des Lichts und somit den Handel mit den Lichtprodukten. (mehr hier) Man weiß seitdem, was man kauft. Kurz gesagt: Helligkeit.

Das Jahr 1924 war aber auch der Beginn eines Ereignisses, das alle humanbezogenen Wissenschaften, Psychologie, Soziologie, Medizin … stark geprägt hat. Die Rede ist von Hawthorne Studies, deren Ziel der Nachweis der Wirkung der Qualität der Beleuchtung auf die menschliche Arbeitsleistung war. Am Ende wusste die Welt aber etwas Unerwartetes: Egal, wie das Licht auch war, leisteten Menschen mehr, wenn sie sich beobachtet fühlten. Es schien, die Qualität des Lichts würde die Leistung nicht beeinflussen. Somit misslang der Versuch, dem Käufer von Licht den Gegenwert dafür zu belegen. Mehr Licht = mehr Leistung ging nicht auf.

Die Hawthorne Studien und deren Folgen für die Lichttechnik habe ich in den Kapiteln

behandelt. Damit soll erklärbar werden, warum es in der Lichttechnik Legenden gibt, die sich über Jahrzehnte halten. Den Vorwurf einer Märchenerzählung hat nicht etwa ein Feind der Lichttechniker erhoben, und auch nicht in einem Provinzblatt. Er wurde von einem der renommiertesten Vertreter des Fachs erhoben und das vor dem Kongress der größten Lichttechnischen Gesellschaft der Welt, IES.

Aber noch viel älter als diese Legenden ist der Glaube, gutes Licht sei wichtig für den Arbeitsschutz. Dies kann man z.B. an den Vorschriften in vielen Ländern sehen, die Beleuchtung und Arbeitsschutz verbinden. Als die CIE in den 1990er Jahren eine internationale Umfrage startete, um festzustellen, in welchen Ländern es Vorschriften zu Beleuchtung und Arbeitssicherheit gibt und worauf diese beruhten, stellte sie fest, dass 14 Länder antworteten, dass sie Regeln und Vorschriften hätten. Auf die Frage „Gibt es Forschungsarbeiten zu Licht als Unfallursache, auf denen die nationalen Regeln beruhen?“, gab es keine einzige Antwort.

So etwas hielt die Lichttechniker nicht davon ab, zu behaupten, Licht sei bedeutsam für den Arbeitsschutz. Das geschah nicht etwa aus Überzeugung, sondern aus Marketinggründen. Denn seit dem Jahr 1935 sorgt der deutsche Staat dafür, dass deutsche Betriebe die Normen und Vorschriften für Beleuchtung einhalten, die die lichttechnische Industrie erarbeitet.

Woher kam aber der Glaube? Das kann ja nicht 1935 plötzlich entstanden sein. Die Antwort auf diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Zunächst waren es Sozialwissenschaftler, Architekten, Städtebauer, die die Bedeutung des Lichts für die menschliche Gesundheit propagierten. Dies habe ich z.B. im Kapitel Krankheiten der Finsternis – Geschichten aus New York und Chicago behandelt. Die Entstehung der Gartenstädte weltweit, die Entstehung und Verbreitung von Gartenlauben von Deutschland ausgehend in ganz Europa sind Beispiele dafür. All dies sorgte für den Glauben, gutes Licht = gesunde Umwelt.

Es fiel niemandem schwer, so zu glauben, weil das Helle auch jenseits der technischen Welt immer positiv gesehen wird. Es stand ja schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte, dass Gott gesehen hatte, dass Licht gut war.

"Licht und Gesundheit" war am Ende der Industriellen Revolution Gegenstand von sozialpolitischen Bewegungen. Den Elan, den diese geschaffen hatten, nutzte ein gewisser Matthew Luckiesh, Direktor einer Lampenfabrik von General Electric, in unheimlich geschickter Weise. Dessen Buch Light and Health erschien vor 99 Jahren. Sein Anspruch: Tageslicht ist unerlässlich für ein gesundes Menschenleben, aber es ist unzuverlässig. Man kann es künstlich besser nachbauen. Dies sollte ein anderer Direktor eines Lichtherstellers etwa 75 Jahre später vor laufender Kamera einem Fernsehjournalisten gegenüber behaupten. So tief sitzt der Glaube.

Was 1935 geschehen war, ist eine deutsche Version der Hawthorne Studies. Der deutsche Staat sorgte mit einer Kampagne für „Gutes Licht“ dafür, dass die Leistung des Arbeiters steigen möge. Der Initiator des Ganzen, ein gewisser Albert Speer, sollte später Kriegsminister Hitlers werden. Seinerzeit wurde nicht nur der Arbeitsschutz unter die staatliche „Obhut“ genommen, sondern auch die Lichttechnische Gesellschaft (seinerzeit Deutsche Lichttechnische Gesellschaft e. V. (DLTG), später Deutsche Lichttechnische Gesellschaft e. V. (LiTG), 111 Jahre nach ihrer Gründung, LiTG, Deutsche Gesellschaft für LichtTechnik und LichtGestaltung e. V.). Sie bekam sogar einen Gauleiter.

Die damals geknüpften Bande zwischen der Lichttechnik und dem Arbeitsschutz wurde 1990 durch die EU gekappt. Diese erließ neue Arbeitsschutzgesetze, wonach alle normativen Regelungen, die die Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung berühren, Sache des Staats sind. Somit dürfen Normen „privater“ Organisationen wie DIN oder VDI keine Bestimmungen enthalten, die für ein bestimmtes Niveau an Sicherheit sorgen sollen.

Am Ende steht nach 100 Jahren V(λ)-Kurve, dass der Staat den Betrieben Vorgaben für die Beleuchtung der Arbeitsstätten macht (ASR A3.4 Beleuchtung). Dummerweise kann man danach recht schlecht planen. Dazu gibt es, völlig ungefragt, Normen für die Beleuchtung von Arbeitsstätten (z.B. EN 12464-1 und -2 bzw. deutsche Versionen davon, die sich ein Ziel suchen mussten. Gesundheit und Sicherheit durften es nicht mehr sein. Was bleibt: Leistung.

So sagt der Anwendungsbereich der Norm aus: „Dieses Dokument legt Beleuchtungsanforderungen für Menschen an Arbeitsplätzen in Innenräumen fest, die den Anforderungen an den Sehkomfort und die Sehleistung …“ Kann sich wer was darunter vorstellen? Sehkomfort? In den 1347 definierten Begriffen des Internationalen Wörterbuchs der Lichttechnik (ILV) kommt der Sehkomfort nicht vor. Aber auch sonst ist er nur ein Schlagwort. Dann bleibt echt Sehleistung übrig. Wer da ein Kriterium erwartet, mit dem man ein normatives Werk von 103 Seiten begründet, wird entgeistert sein. Sie war in ILV einst so definiert: „Leistung des visuellen Systems, wie sie beispielsweise durch die Geschwindigkeit und die Genauigkeit gemessen wird, mit welcher eine Sehaufgabe gelöst wird.“ Sehaufgaben lösen?

Diese Definition gefiel den Europäern nicht, so formulierten sie etwas Besseres: „Sehleistung – Leistung des visuellen Systems“ (DIN EN 12665:2002 Licht und Beleuchtung, Grundlegende Begriffe und Kriterien für die Festlegung von Anforderungen an die Beleuchtung). Und was ist das visuelle System? Was leistet sie denn?

Wer so dumme Fragen stellt, ist selber schuld. Genau genommen weiß niemand, was das visuelle System ist. Bekannt ist nur, dass das Gehirn des Menschen etwa zur Hälfte zur Verarbeitung von visuellen Signalen dient (ISO 9241-610 Impact of light and lighting on users of interactive systems). Da das Gehirn 20% der Gesamtenergie verbraucht, ist das Sehen mit 10% (!) dabei.

Was soll man mit einer solchen Norm überhaupt anfangen? Man sollte nach deren Vorwort verfahren: „Sicherheit und Gesundheitsschutz - Grundsätzliche Anforderungen an die Beleuchtung hinsichtlich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit werden in Deutschland nicht in dieser Norm, sondern in der Arbeitsstättenverordnung
(ArbStättV) geregelt. In den Anwendungsbereich der ArbStättV fallen alle Arbeitsstätten. Die allgemeinen Anforderungen der ArbStättV hinsichtlich Beleuchtung werden in der Arbeitsstättenregel ASR A3.4 „Beleuchtung“ weiter konkretisiert."

Diese und weitere Narrative habe ich im Kapitel „Die Legende vom gesunden Licht reloaded“ behandelt und kommentiert. Denn was in Hawthorne nicht gelungen ist, der Nachweis einer Beziehung zwischen Lichtqualität und Arbeitsleistung, wird auch heute niemandem gelingen.

Wenn man keine Beziehung zwischen Lichtqualität und Leistung nachweisen konnte, heißt das, dass es diese nicht gibt? Diese Schlussfolgerung darf nicht gezogen werden. Die Wahrheit heißt, man kann sie nicht experimentell nachweisen. Der Hawthorne-Effekt heißt der Missetäter, der beim Experimentieren täuscht.

Kann man eine solche Beziehung nie nachweisen? Selbstverständlich kann man mit einigem Aufwand den Nachweis führen, dass geeignetes Licht zu besserer Leistung führt. Eine Methode besteht darin, dass man den Hawthorne-Effekt umgeht, indem die Beobachtung von Individuen entfällt. So kann man die Wirkung des Lichts auf die kollektive Leistung eines Werkes studieren. Noch sicherer ist eine retrospektive Studie, bei der man frühere Ereignisse nachträglich untersucht. Beides hatte mein Institut geplant. Gescheitert sind die Vorhaben nicht am Hawthorne-Effekt, sondern an der Struktur der Industrie.

Projekt 1 sollte nach 1990 in Autowerken stattfinden, die in der ehemaligen DDR neu entstanden waren. Sie gehörten westdeutschen Unternehmen, deren Werke eine andere Beleuchtung hatten. Was liegt näher als die Qualität der neuen Beleuchtung und der Arbeit zu untersuchen? Leider kann man so etwas im Labor durchführen, aber nicht in der Industrie. Man stelle sich vor, es wird nachgewiesen, dass ein Ausleger einer Firma effizienter oder qualitativ besser produziert als das Haupthaus! Projekt 1 tot!

Projekt 2 sollte zwischen den Werften einer Luftfahrtgesellschaft stattfinden, die Flugzeuge warten. Es sollte der Einfluss des Tageslichts auf Fehler untersucht werden. Da in der Luftfahrt-Industrie Fehler eine besondere Rolle spielen, wird die Qualität der geleisteten Arbeit ständig geprüft. Unentdeckte Fehler entdeckt man nach Unfällen. Da alles in der Vergangenheit liegt, werden keine Menschen bei der Arbeit beobachtet. Ergo kein Hawthorne-Effekt. Dafür gibt es leider zwei große Hindernisse: den Wettbewerb zwischen den Werften, die sich um die Aufträge reißen, und die Luftfahrtaufsicht, die sich sehr um die unentdeckten Fehler interessiert, die die Wartung überlebt haben sollen. Projekt 2 tot!

Das waren die Gründe hinter dem Namen eines Kapitels: Legendenbildung und Märchenerzählung – Ungewöhnliche Aktivitäten für Ingenieure …

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