Blendung, die man nicht Blendung nennt

Die Wahrheit ist selten rein und nie einfach.

Oscar Wilde

Warum sich die Lichtforschung im Kreise dreht, lässt sich am Beispiel des Fehlens einer übergeordneten Bezeichnung aller Erscheinungen darstellen, die einem das Sehen erschweren oder unmöglich machen. Die allgemeine Sprache kennt aber diesen Begriff: Blendung.

Die Lichttechnik hat einen bekannten Begriff genommen, diesen aber nur für eine begrenzte Bedeutung benutzt. Diese Bedeutung hieß und heißt physiologische Blendung. Und manches, was nicht unter diese Bedeutung passte, wird psychologische Blendung genannt. Diese Bedeutung ist für den Laien unverständlich, aber die Ermittlung der Blendung beruht auf der subjektiven Beurteilung  von Laien. Bezeichnend ist eine Bemerkung der ersten Forschenden, die im Labor von AEG in Springe Versuche durchführten. Sie sagten: „Das Schwierigste war es, den Probanden zu erklären, was Blendung ist.“

So ist es auch. Bei meinen Versuchen wollten die Probanden gar nicht erst geblendet werden. Dabei wären die Bedingungen, die sie beurteilen sollten, nach der gängigen Vorstellung unangenehm bis unerträglich. Nach etwa 200 Probanden fing ich an, die Versuchspersonen nach dem Versuch zu fragen, was sie denn beurteilt hätten. Sie sagten, ich wäre nett zu ihnen gewesen, hätte Kaffee und Kuchen serviert, und mein Modell wäre sehr schön. Außerdem würden sie für 20 Minuten Arbeit einen vollen Stundenlohn bekommen. Sie wollten mich nicht mit einem negativen Urteil enttäuschen. Zumal bislang niemand sie nach ihrer Meinung gefragt hätte.

In der Psychologie nennt man das Versuchsleitereffekt. Und ist der Hawthorne-Effekt für Arme. Einen Kollegen hat es noch schlimmer erwischt. Er hatte lange blonde Haare und war überhaupt sehr angenehm. Eine Probandin tauchte eines Tages mit einer Schachtel Pralinen bei ihm auf und wollte sich dafür bedanken, dass sie nach ihrer Meinung gefragt wurde.

Es lohnt sich, erst einmal den Begriff Blendung in der Lichttechnik anzusehen und danach die allgemeIne Bedeutung. Und was der Letzteren entspricht, aber einen anderen Namen trägt.

Physiologische Blendung ist eine Form der Blendung, die zu einer messbaren Herabsetzung der Sehleistung führt, so etwa beeinträchtigte Kontrast- und Formenerkennung, verminderte Sehschärfe.

Psychologische Blendung ist eine subjektive Störempfindung oder ein Gefühl des Unbehagens, ausgelöst durch zu hohe Helligkeitskontraste (z. B. ein helles Fenster im Blickfeld bei der Arbeit), ohne dass die Sehleistung unmittelbar messbar herabgesetzt wird.

Was versteht der Mensch, der eine Blendung beurteilen soll, unter diesem Wort? Wem ist das Wort Blendung ein Begriff? Immer wenn sich eine solche Frage stellt, bietet Wikipedia eine Seite, auf der verschiedene Bedeutungen eines Wortes angeführt werden. Diese Seite heißt auf Deutsch „Begriffsklärungsseite“. Bei manchen Worten imponiert die Wikipedia-Liste der Bedeutungen durch ihre Länge, bei Blendung insbesondere durch ihre Diversität. So kommt das Wort Blendung sowohl im Rechtswesen (Strafe) als auch im Militärjargon vor. Aber auch die Kryptographie benutzt das Wort ebenso wie die Kürschnerei.

Ist Blendung im Rechtswesen eine Strafe, die zur Erblindung führt, also zu einem permanenten Schaden, so spricht das Militär davon, dem Feind nur für eine begrenzte Zeit die Sicht zu nehmen. Die Kryptographie spricht von einem Blender, wenn es sich um ein Zeichen handelt, das keine Bedeutung hat, auf Englisch dummy oder null. Es soll dem unbefugten Entzifferer der Nachricht eine Bedeutung vortäuschen, damit sich dieser dem Blender widmet und so die nützliche Nachricht übersieht. Im Alltagsleben spielt ein Blender die Rolle einer Null. Mal ist dieser ein Vorstadtcasanova, mal ein Politiker, dessen Fähigkeiten man überschätzen soll.

Allen Begriffen gemeinsam ist, dass eine Blendung einem die Sicht nimmt oder erschwert, auch in übertragenem Sinne. Das tun die Objekte, die eine physiologische Blendung verursachen, aber nicht die, die eine psychologische Blendung erzeugen. Man sieht genauso klar mit und ohne psychologische Blendung, nur ist eine Situation halt unangenehm, wenn Blendung herrscht.

Es gibt aber Fälle, wo man am Sehen gestört wird und die Sache unangenehm findet, die aber trotzdem nicht Blendung heißen. Aber erst einmal zu einer Situation, die äußerst angenehm ist, aber mit Blendung, besser gesagt, die Blendung merkt keiner.

Das ist zweifellos eine angenehme Situation, bei der jeder der beiden Teilnehmer durch die Kerzen beleuchtet wird. Gleichzeitig aber muss man die andere Person am Tisch durch die Kerzen hindurch sehen und wird somit etwas am Sehen gehindert. Auf die Idee, diese Blendung zu nennen, kommt so gut wie niemand.

Hingegen kann eine Situation von unmerklich bis unerträglich unangenehm sein, das Sehen von kaum merkbar bis kaum vorhanden stören, man nennt sie trotzdem nicht Blendung. Jedenfalls nicht auf Deutsch. Amerikaner sprechen da schon reflected glare wie „Blendung durch Reflexion“. Diese Erscheinung ist seit Jahrzehnten bekannt. Ich musste sie vor rund 50 Jahren beschreiben und Massnahmen dagegen in den Arbeitsschutz einbringen. Und wurde von der Computerindustrie als einer der Feinde der Technologie verfolgt. Mir ist noch gelungen, eine deutsche Norm zu erstellen, die die Störung beseitigt. Die Industrie schaffte aber 15 Jahre später eine internationale Norm (ISO 9241-3:1992 Ergonomische Anforderungen an Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten (VDTs); Teil 3: Anforderungen an Bildschirmgeräte), die keine Anforderung an Entspiegelung enthält. Diese Norm endgültig abzuschaffen dauerte bis zum Jahr 2023!

Zunächst zum Effekt. Er sieht in schlimmen Fällen wie hier aus. Dieses Bild ist über 60 Jahre alt. Ich fand es 1975. Der Effekt entsteht, indem Papier und Druckfarbe glänzen. Im schlimmsten Fall dreht sich der Kontrast um, das weiße Papier scheint schwarz, während die schwarze Druckfarbe hell glänzt.

Während man im normalen Leben solche Erscheinungen nur dort erleben kann, wo man unter gerichtetem Licht Seiten mit Glanzpapier zu lesen versucht (z.B. im Zug oder im Flugzeug), gibt es den Effekt fast überall, wo Arbeitsräume direkt beleuchtet werden. Das war in der Zeit, als wir das Projekt „Licht und Gesundheit“ bearbeiteten, praktisch in allen deutschen Büros der Fall. Die messbare Wirkung hat Prof. Hartmann sogar quantitativ untersucht.

In der Regel merkt man den Effekt nicht bewusst. Man kann ihn durch vergleichende Untersuchungen unter der gleichen Beleuchtung mit und ohne Sehaufgabe ermitteln. Wenn der Effekt da ist, ermüden die Probanden stärker. Die Rede ist von einer verminderten  Wiedergabe des Kontrastes. Man bestimmt sie in einer vergleichenden Messung unter idealen Bedingungen und in der realen Situation. Das Ergebnis ist der Kontrastwiedergabefaktor. Dessen Bedeutung wurde von den Experten der LiTG so hoch eingeschätzt, dass sie schon sehr frühzeitig eine Arbeitsgruppe an eine Publikation setzte (LiTG-Publikation Nr. 13 Der Kontrastwiedergabefaktor CRF – ein Gütemerkmal der Innenraumbeleuchtung,  1991).

Dieses Gütemerkmal hat es nie in eine Norm für Beleuchtung geschafft. Und das aus gutem Grunde aus Sicht der Industrie. Man kann nämlich mit Hilfe einer CRF-Berechnung nachweisen, dass die viele Jahrzehnte lang bevorzugte Beleuchtungsart, die Allgemeinbeleuchtung, gar keine ist. Sie ist nämlich definiert durch z.B. Prof. Hentschel als „eine gleichmäßige Beleuchtung, die an allen Stellen des Arbeitsraumes etwa gleiche Sehbedingungen schafft“ (Hentschel, H.-J.: Licht und Beleuchtung, Siemens Berlin München 1972). Rechnerisch gibt es aber annehmbare Sehbedingungen nur an bestimmten Teilen eines Raums, was man u.a. daran erkennt, dass die Normen für Beleuchtung die Anordnung der Arbeitsplätze mit vorgegeben haben. Wenn man den Empfehlungen folgt, müssten große Teile der Büros leer stehen.

Das Bild zeigt links, wie sich die Normer die Belegung eines Büros vorstellen. Rechts sind alle störenden Informationen bereinigt worden. Man sieht, wo man optimale Sehbedingungen hergestellt haben will.

Amerikanische Lichttechniker haben in den 1960ern eine Methode entwickelt, mit der man berechnen kann, was die Beleuchtung an den leeren Stellen dieser Räume „wert“ ist. Die Methode heißt „ESI“ wie equivalent sphere illuminance. Hierbei wird der Kontrast auf einem Objekt unter idealen Bedingungen (gleichmäßig leuchtende Kuppel über dem Objekt) und unter realen Bedingungen gemessen. Wird die Sehleistung durch einen Kontrastverlust verringert, kann man die Beleuchtungsstärke ermitteln, die fiktiv diese entsprechende Leuchtdichte erzeugen würde. Diese Größe wird die „äquivalente“ Beleuchtungsstärke genannt. Im Falle des eingezeichneten Beispiels beträgt sie weniger als die Hälfte des physikalisch messbaren Wertes. In besonders schlimmen Fällen bleibt von den installierten 500 lx effektiv nur ein Zehntel übrig.

Wenn man die Definition von Prof. Hentschel ernst nimmt, sind Planungen auf der Basis von Beleuchtungsstärken die reinste Augenwischerei. Allgemeinbeleuchtung kann es nach der Feststellung eines anderen prominenten Professors für Lichttechnik, Bodmann, nur mit einer Indirektbeleuchtung geben. (Bodmann, H.W.; Eberbach, K.; Leszczynska, H., Lichttechnische und ergonomische Gütekriterien der Einzelplatzbeleuchtung im Büro, Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, 1995, Forschungsbericht BAuA) Äquivalent wäre eine leuchtende Decke.

Bislang geht es um ein lösbares Problem, das man auch oft genug praktisch gelöst hat. Viel hartnäckiger hält sich ein anderes Phänomen, Kontrastverlust auf Bildschirmen. Die erste Anfrage diesbezüglich an mich kam 1970 von Kollegen aus der Entwicklung von Siemens, die wissen wollten, wie man einen Bildschirm entspiegeln soll. Die (vorerst) letzte Anfrage könnte kurz vor meinem Tode kommen. Mein letztes Gespräch hierzu war im Sommer 2025 mit einem Professor für Farbenlehre, der jetzt allein mit den Problemen kämpft.

Nicht, dass wir keinen Fortschritt gehabt hätten. Der „normale“ Büromensch, der 1975 bei einer ordentlichen Beleuchtung kaum was auf seinem Bildschirm sehen konnte, wird heute kaum eine Beschwerde haben. Dumm nur, dass dieser unter Computernutzern mittlerweile eine winzige Minderheit ausmacht. Die Zahl der aktiven Mobilfunk-Abonnements (Handyverträge, SIM-Karten) weltweit liegt bei über 8,7 Milliarden (Prognose für Ende 2024, nach dem Ericsson Mobility Report). Die Anzahl der Smartphone-Nutzer liegt Schätzungen zufolge bei etwa 4,88 Milliarden bis 5,28 Milliarden Menschen (Stand 2024/2025). Das entspricht etwa 60 % bis 65 % der Weltbevölkerung.

All diese Menschen benutzen ein zu kleines Display für ihren Bedarf, weil dieses in eine Hand passen muss. Und es gibt niemanden, der sich um ihre Beleuchtung kümmert. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Displays schlecht geschützt gegen Licht. Der öffentliche Raum ist voller Menschen, die alle so gucken wie hier.

Das ist aber noch nicht alles. Denn auf den zu kleinen Displays erscheinen Farben, deren Empfindlichkeit gegen weißes Licht keine einzige Norm der Welt berücksichtigt. Noch eine Blendung, die niemand so nennt. Dagegen ist die oben berechnete Wirkung des Kontrastverlustes im Büro eine Kleinigkeit.

Aber auch wer beruflich Displays benutzen muss, egal welcher Qualität, wird „geblendet“. Für Leute, die Bilder mit hoher Farbqualität bearbeiten sollen, gibt es nur die Dunkelheit am Arbeitsplatz. Aber auch ganz „normale“ Bearbeiter, z.B. Cutterinnen beim Fernsehen, sind in zunehmendem Maße betroffen, weil die Qualität des gesendeten Materials viel höher ist als noch vor 20 Jahren. Für diese gibt es sogar Ausnahmen beim Arbeitsschutz.

Kaum jemand wird sich Gedanken um Ärzte machen, die einen operieren. Diese arbeiteten einst unter gleißend heller Beleuchtung, jetzt nur noch in grüner Kleidung im Schummerlicht, weil die Operation auf Bildschirmen zu bewundern ist. Es gibt sogar Dienstverträge, die den Ärzten Lichttage bescheren als Kompensation für Tage, die sie isoliert vom Tageslicht arbeiten müssen (Licht und Lichttage).

Das Arbeitsleben wie das öffentliche Leben haben in den letzten 50 Jahren eine gewaltige Transformation erlebt, durch die das relativ einfach zu beleuchtende Papier seinen Platz an Displays überlassen hat. Diese sind auf diverse Arten und Weisen lichtempfindlich. Die lichttechnische Normung hat dies alles nicht mitbekommen. Sie gibt Beleuchtungen vor, die der Sehleistung dienen sollen, aber geeignet sind, Sehleistung soweit zu stören, dass die Beleuchtung zu einer Gefahr werden kann.

 

 

 

Eine Antwort auf „Blendung, die man nicht Blendung nennt“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.