Die Wahrheit ist selten rein und nie einfach.
Oscar Wilde
Die wirksamste Methode, die Wissenschaft zu behindern, besteht im Ignorieren. Man nimmt Erkenntnisse einfach nicht zur Kenntnis. Gemeint sind nicht die Fälle, wo geprüft und zu leicht befunden wird, sondern das bewusste Ignorieren. Dieses wird in zwei Arten praktiziert: passiv durch Nichtwahrnehmen und aktiv durch sinnlose Gegenstudien.
Als ich zu diesem Thema ein Beispiel aus der Praxis der Lichttechnik suchte, fielen mir lauter Beispiele ein, bei denen die Lichttechnik eher Opfer, denn Täter war. Deutlicher gesagt, ich musste für mehrere Jahrzehnte dafür kämpfen, dass die Erkenntnisse meines allerwichtigsten Forschungsprojekts bei Computerfirmen und Gerätedesignern Akzeptanz fanden. Die Erkenntnisse stammten hauptsächlich aus dem Bereich der Lichttechnik und wurden von Ergonomen und Arbeitsschützern gerne aufgenommen. Die Computerfirmen behaupteten hingegen immer wieder, es gäbe keine Literatur, die meine Erkenntnisse unterstütze. Da half nicht, dass man gleich eine Reihe Studien zitieren konnte. Wenn es nicht passt, wird eben ein ganzes Fachgebiet ignoriert.
Wenn die Sache aber bedeutsam scheint, reagiert man mit Gegenstudien, die ganz raffiniert von sogar renommierten Wissenschaftlern erstellt werden. Diese wissen manchmal nicht, wem sie da dienen. In den meisten Fällen aber stellen diese ihre methodischen Fähigkeiten denen zur Verfügung, die unliebsame Erkenntnisse loswerden wollen. Nicht ganz kostenlos.
Jemand, dessen Institution diesbezügliche Attacken seit fast einem Jahrhundert erleiden musste, Linda Rosenstock, die Präsidentin der US-amerikanischen Arbeitsschutzbehörde NIOSH, hat die Methoden wunderbar dokumentiert (in: Contributions to the History of Occupational and Environmental Protection, Antonio Grieco, Sergio Iavicoli and Giovani Berlinguer, Elsevier Science, ISBN 0 4445 0255 6, pdf zum Download hier) Dabei war das Aufhalten des Verbots von Asbest über 100 Jahre nicht mal das Schlimmste. Schlimmer noch ist die systematische Instrumentalisierung der Wissenschaft, um Wissen zu unterdrücken. Das ist das aktive Vorgehen, mit dem ich anfange.
In meiner Dissertation hatte ich nachgewiesen, dass die psychologische Blendung in der Sportstättenbeleuchtung keine Rolle spielte, wie sie in der Lichttechnik betrachtet wurde. Bemühungen, diese zu vermeiden, würden sogar dazu führen, dass sich die Fußballspieler stärker geblendet fühlten. Und dies hatte ich nicht nur mit den Stimmen von 70% der Profis der ersten Bundesliga belegt, sondern auch mit Berechnungen, gegen die niemand etwas sagen konnte. Das war kein Gefühl, sie sahen schlechter.
Das lichttechnische Wissen von damals sagte, um die Blendung durch die Scheinwerfer zu reduzieren, müsse man die Umgebung heller machen. (Diese Weisheit gilt immer noch, aber nicht immer.) Außerdem würden die Unterschiede der Leuchtdichte des Feldes und der Tribünen Ermüdung bei den Zuschauern und Spielern hervorrufen. Deswegen müssten die Tribünen beleuchtet werden wie das Feld. Beides stand in einer LiTG-Publikation herausgegeben von dem zuständigen Technisch-Wissenschaftlichen Ausschuss des Vereins. (LiTG-Fachausschuß „Sportstättenbeleuchtung". Beleuchtung von Sportstätten für das Farbfernsehen. LICHTTECHNIK 20 (1969) Nr. 11, S. 125 A.)
Weder damals noch heute konnte aber jemand Ermüdung bestimmen. Also war die Behauptung aus der Luft gegriffen. Zudem sagte die anwendbare lichttechnische Regel nicht aus, dass alles die gleiche Helligkeit haben müsse, sondern dass das Sehobjekt (hier das Feld) nicht heller sein soll, als der dreifachen Leuchtdichte der Umgebung entspricht. Die weitere Umgebung kann etwa um den Faktor 10 in der Helligkeit abfallen. Die Faustregel ist als solche seit den 1940ern bekannt als 10:3:1-Regel. Sie muss aber in den 1920ern bewusst geworden sein, z.B. Leffingwell (hier: Die unausgewogene Leuchtdichteverteilung oder wie eine Technik ihre Reputation verlor).
Die Regel darf aber nicht dazu verwendet werden, um schlechtere Sehverhältnisse herzustellen. Und diese wurden tatsächlich von den Fußballern beanstandet, weil hell beleuchtete Tribünen den Ball teilweise unsichtbar machen können. Dies kann man fotografisch nachweisen und auch berechnen. Die helle Tribüne sieht insbesondere bei Regen wie ein bunt geschecktes Fell aus, vor dem der Ball mal einen Kontrast hat und mal nicht. Wenn msn seine Flugbahn verfolgt, sieht er aus, als ob er hüpft. Der Effekt lässt sich mit einfachen Mitteln nachbilden.
Hinzukommt, dass die Beleuchtung mit Hochdrucklampen betrieben wurde, deren Licht nicht überall im Raum über dem Stadion ständig leuchtet. Bei der Olympiade in München 1972 hatten viele Sportfotografen schwarze Fotos bei 4000 lx geschossen, weil das Licht für Sekundenbruchteile wegbleibt. Die Kameras schossen aber mit 1/1000 bis 1/4000 Sekunden. Der unwiderlegbare Beweis des Effekts ist dieser Ball, der in sich scheckig ist, damit ein Stück von ihm immer Kontrast hat. Mittlerweile gibt es ihn nicht mehr, weil die Beleuchtung besser geworden ist.
So habe ich empfohlen, die Tribünen möglichst nur mit Streulicht zu beleuchten und relativ dunkel zu lassen. Dies würde den Zuschauern wie den Spielern zugutekommen und dazu die Kosten gewaltig reduzieren, weil die Beleuchtung der Tribünen eingespart wird. So wird es heute auch gemacht.
Das war der Firma Philips, damals Wortführer in der Normung, zu viel. Sie beauftragte einen Doktoranden, die psychologische Blendung bei Sportstätten zu untersuchen. Mein Doktorvater, einer der führenden Köpfe der Lichttechnik, schrieb die Firma an und empfahl, die Arbeit nicht zu beginnen, weil diese Art Blendung nachgewiesenermaßen irrelevant wäre. Die Firma ignorierte die Warnung wortlos. Der Doktorand sollte später höhere Weihen erklimmen und wurde Professor und sogar CIE-Präsident und bekam einen Lifetime Award für seine Forschung, der noch später nach ihm benannt wurde. Die KI liefert mehrere Dutzend Publikationen unter seinem Namen, in Google Scholar umfassen seine Publikationen mehr als zehn Seiten. Aber über seine Dissertation konnte ich nichts finden.
Als hochdekorierter Experte durfte er 2009 eine Keynote-Rede vor einem europäischen Kongress halten, die zukünftige „heiße“ Fragen der Lichttechnik thematisierte (Lux Europa, 2009). Er nannte dazu drei Aspekte. Hiervon war der erste Aspekt psychologische Blendung. (Lighting tomorrow: what’s hot: „For indoor lighting, the UGR system is used for glare evaluation. The empirical research from both USA and Europe, on which the UGR system is based, dates mainly back to the late fifties and early sixties of last century (e.g. Luckiesh, Hopkinson, Guth, Sollner, Bodmann, Fischer)). Ignorieren lohnt sich also doch nicht.
Einen schlimmeren Fall erlebte ich mit einem Computerhersteller, der ein Prüfzeichen für einen Laptop bekommen wollte. Für das deutsche Prüfzeichen (GS = geprüfte Sicherheit) musste er einen matten Monitor nachweisen. Das schwedische Zeichen (TCO) bekam man ohne diesen auch nicht. Beides aus gutem Grund. Danach sollten wir beauftragt werden, nachzuweisen, dass der Monitor nicht glänzt. Dieser war aber absichtlich glänzend gemacht worden. So bot ich an, man solle nicht versuchen nachzuweisen, dass der Monitor nicht glänze, sondern dass der Glanz nicht störe, weil die Nutzer auch etwas Positives darin sähen. Aber dass Glänzendes nicht glänze, könne man nicht nachweisen. Kann man das?
Dieses Kunststück brachte ein Institut der Universität Loughborough fertig. Allerdings erfolglos. Denn beim zuständigen deutschen Ausschuss war der Vorgang bekannt. Und die Verantwortlichen der TCO weigerten sich, das Gutachten in Kenntnis zu nehmen.
Das Papier war zwar zwecklos, verschwand aber nicht, wo es hingehörte. Es wurde in einem wissenschaftlichen Journal eines der vier größten Verlage der Welt publiziert und gilt seitdem als seriöse Quelle. Die Autoren hatten allerdings „vergessen“, den Sponsor der Arbeit zu nennen. Eigentlich ein Grund, die Publikation zurückzuziehen. Für uns war der Auftraggeber erledigt. Wir für den auch.
Etwa 10 Jahre danach wurde das Papier für einen internationalen Normungsantrag als Beleg eingereicht. Wissenschaftliche Studien der Universität Loughborough hätten gezeigt, dass … Als ich dagegen Einspruch einlegte, fragte der zuständige Leiter der zuständigen Kommission, ob ich zu einem Protest befugt sei. Ein Drang zur Wahrheitsfindung sieht anders aus.
Hier könnte eine lange Liste von Versuchen folgen, eine eindeutige Sachlage zu ignorieren und trotzdem eine angebliche Erkenntnis durchzusetzen, die den eigenen Interessen besser passt. Es gibt Wissenschaftler, die sich für solche Zwecke anheuern lassen, die auf Englisch hired guns genannt werden, also Auftragskiller. Sie bringen niemanden um, nur die Wahrheit. Bei der modernsten Art braucht man keine Wissenschaftler mehr, sondern nur zu diesem Zweck gegründete Verlage, die Bücher und Zeitschriften herausgeben und Kongresse veranstalten. Alles auf dem Papier, Pardon, im Netz. Eine (nicht vollständige) Liste heißt Beal's List of Potential Predatory Journals and Publishers (hier)
(Gesamtheit aller statistischen und methodischen Kniffe hier zu lesen)

Eine Antwort auf „Die Methode Wissenschaft, mit der man Wissenschaft verhindert – Ignorieren – die Patentlösung zum Ersten“